Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
aufgenommen worden. Man wollte sie nicht auf der Straße sterben lassen."
"Was für eine Krankheit hatte sie, Miss Hadfield?"
Die Nanny hob die Schultern. "Bis auf Mrs. Sibley hat sie niemand vom Personal zu Gesicht bekommen. Sir Richard hatte für sie eine Pflegerin aus Canterbury eingestellt, die bis zu ihrem Tod bei ihr im West-Tower gewohnt hat." Sie sah Diana bittend an. "Wenn du keinen Ärger mit Mrs. Sibley bekommen willst, solltest du diese Frau nie wieder erwähnen."
"Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Hadfield", erwiderte Diana. "Von mir erfährt niemand ein Wort."
Am späten Abend öffnete Diana die schwere Tür, die auf eine der schmalen Dachterrassen hinausführte. Sie hatte hier schon öfters an der Balustrade gelehnt und über Baxter Hall hinweg zum Meer gesehen.
Es wehte ein ziemlich kühler Wind. Die junge Frau zog ihren wollenen Schal enger um die Schultern. Sie dachte über das nach, was sie von Betty Hadfield erfahren hatte.
Diana bemerkte nicht, daß sie vom Südflügel des Hauses aus beobachtet wurde. Andrew Baxter hatte sich ebenfalls auf eine der Dachterrassen zurückgezogen. Hinter einem Kamin verborgen blickte er zu ihr hinüber.
* * *
Der Gedanke an die junge Frau ließ Diana keine Ruhe. Fast ununterbrochen überlegte sie, wer sie wohl gewesen sein mochte. Hatte es sich um eine Verwandte von Sir Richard, oder seiner verstorbenen Gattin gehandelt? Weshalb hatte man niemanden zu ihr gelassen?
Zwei Tage nach ihrem Gespräch mit Miss Hadfield erwachte Diana noch vor Morgengrauen. Vergeblich versuchte sie, erneut einzuschlafen. Vom Nachbarbett drangen die vertrauten Atemzüge Mary Jones'. Ihre mütterliche Freundin war am Montagmorgen gutgelaunt aus Sandwich zurückgekehrt. Sie hatte ihr von einem neuen Auftrag erzählt, der auf sie wartete, wenn sie ihre Arbeit auf Baxter Hall abgeschlossen hatte. Die Nichte des Bürgermeisters hatte sich verlobt. Sie sollte die junge Frau mit mehreren Kleidern ausstatten.
Diana stand leise auf. Nachdem sie flüchtig Hände und Gesicht mit Wasser benetzt hatte, zog sie sich im Schein einer Kerze an. Wenige Minuten später verließ sie die Kammer, huschte den Gang entlang und stieg die Hintertreppe bis zum Erdgeschoß des Hauses hinunter.
Bevor die junge Frau die Tür zur Halle öffnete, atmete sie mehrmals tief durch. Was sie tat, verstieß gegen alle Regeln des Hauses. Sie durfte die Halle nur betreten, wenn man sie dazu aufgefordert hatte.
In der Halle brannte ein einsames Gaslicht. Es erfüllte den riesigen Raum mit tiefen, bedrohlich wirkenden Schatten, die nur darauf zu warten schienen, sich auf sie zu stürzen.
Diana nahm ihren ganzen Mut zusammen und huschte auf Zehenspitzen zur Bibliothek. Sie war noch nie zuvor in diesem Raum gewesen. Die Tür ließ sich schwerer öffnen, als sie erwartet hatte und wäre fast wieder zugeschlagen. Vorsichtig ließ Diana sie hinter sich ins Schloß gleiten. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie die beiden Stufen hinunterstieg, die in die Bibliothek hineinführten.
Im Schein der Kerze ging die junge Frau bis zum anderen Ende des Raumes. Alle paar Minuten blickte sie sich um, weil es ihr vorkam, als sei nicht allein. Längst bedauerte sie, mitten in der Nacht ihre Schlafkammer verlassen zu haben. Sie hatte hier nichts verloren. Wenn sie dabei ertappt wurde, wie sie durch die Räume schlich, die allein den Baxters vorbehalten waren, würde man annehmen, sie wollte etwas stehlen.
Endlich hatte sie die Tür erreicht, die von hier aus in den West-Tower führte. Sie folgte einer schmalen Wendeltreppe nach oben. Langsam brach der Morgen an. Durch die schmalen Turmfenster fiel das erste Licht.
Diana löschte die Kerze und stellte sie auf einem Fenstersims ab. Eilig stieg sie die restlichen Stufen hinauf. Eine Tür versperrte ihr den Weg. Wider Erwarten ließ sie sich ohne Schwierigkeiten öffnen. Die dumpfe Luft, die ihr entgegen schlug, raubte ihr fast den Atem.
Hinter der Tür lag ein halbrunder Raum mit drei blinden Fenstern, einer Treppe, die noch weiter nach oben führte, einem Bett, einem Waschtisch und einer Truhe. Im Laufe der Jahre hatten Spinnen zwischen den Fenstern ihre Netze gesponnen. Schwer von Staub und toten Insekten klebten sie sogar an den schmutzigen Samtvorhängen.
Die junge Frau stieg hastig die Treppe in den zweiten Raum hinauf. Hier gab es einen Teppich, Vorhänge und ein Himmelbett aus Messing, auf dem noch Matratzen und Kissen lagen. Direkt neben dem Bett gewahrte sie einen Bettisch,
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