Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
Familie
verstoßen
Anne Alexander
Aaronis Collection
Die Pappeln im Park von Silbury Castle bewegten sich sanft im Wind. Lady Ellen Ashburn, die in einem eleganten Reisekostüm auf der Fensterbank in ihrem Zimmer saß, beobachtete zwei Katzen, die sich unweit des Hauses um einen kleinen, bunten Ball balgten, den die jüngeren Kinder am Vortag vergessen hatten. Wehmütig wünschte sie sich, so frei und unbeschwert wie die Katzen zu sein. Es war ihr letzter Morgen in der Schule. Keine Stunde mehr und die Kutsche, die von Rowland Manor geschickt worden war, um sie abzuholen, würde in die Auffahrt einbiegen.
Niedergeschlagen strich sich das junge Mädchen über die Augen. Ellen hatte sich vorgenommen, beim Abschied von Silbury nicht zu weinen, doch die Tränen kamen von ganz allein.
Während der letzten sieben Jahre war das Internat ihr Zuhause gewesen, das sie nur für wenige Wochen während der Ferien verlassen hatte. Nun mußte sie nach Rowland Manor zurückkehren. Sie freute sich nicht, nach Hause zu dürfen. Einzig und allein das Wiedersehen mit ihrer Großmutter erfüllte sie etwas mit Hoffnung. Ihre Großmutter liebte sie. Ihr galt sie nicht als zu gering, weil sie als Mädchen auf die Welt gekommen war.
Hinter ihr öffnete sich leise die Zimmertür und ihre Freundin Damaris Brook trat ein. Liebevoll berührte sie Ellens Schulter. "Sei nicht so traurig, Elli", bat sie. "Wenn einer Grund zur Traurigkeit hätte, wäre ich es. Wie soll ich nur das kommende Jahr ohne dich überstehen? Du wirst mir fehlen."
"Ich werde dir oft schreiben, Damaris", versprach Ellen und wandte sich ihr zu. Leise seufzte sie auf. "Wenn ich mich nur nicht so vor Zuhause fürchten würde. Ich bin erst siebzehn, warum darf ich nicht noch ein Jahr in der Schule bleiben? Weihnachten hat meine Mutter angedeutet, daß mein Vater und sie mich bald verheiraten wollen. Wahrscheinlich hoffen Sie darauf, daß sich bereits bei meinem ersten Ball ein Mann, der ihnen gefällt, für mich interessiert. Ich habe nicht die geringste Lust, in die Gesellschaft eingeführt zu werden." Sie blickte sich in dem Zimmer um, das sie während der letzten Jahre bewohnt hatte. Ihr Gepäck war bereits nach unten gebracht worden. Auf dem Bett lag nur noch eine kleine Tasche.
"Dennoch solltest du dich auf deine Familie freuen", meinte Damaris. "Wenn ich nach Hause fahre, erwartet mich nur ein griesgrämiger Onkel, der mich lieber im Internat sieht und keine Freude an meiner Gesellschaft hat. Ich habe nicht einmal wie du Brüder."
"Wie gern würde ich mit dir tauschen, Damaris", antwortete Ellen. "Meine ältesten Brüder kenne ich kaum. Peter und Arthur sind auch in den Ferien nur selten auf Rowland Manor gewesen. Und mein Bruder Simon wird in der Schule sein. In den letzten Ferien hat er mir erzählt, daß er Arzt werden möchte. Er hat bereits mit meinem Vater darüber gesprochen und der ist einverstanden. Er liebt Simon sehr. Mich hat er noch nicht ein einziges Mal so angesehen, wie er Simon ansieht. Und auch von meiner Mutter ist Simon der Sohn, der ihrem Herzen am nächsten steht."
"Alle Eltern wünschen sich in erster Linie Söhne. So ist das nun einmal auf der Welt", meinte ihre Freundin leichthin. "Onkel George wäre es auch lieber, wenn ich ein Knabe wäre." Damaris hob die Schultern. "Wir sollten darüber nicht traurig sein." Sie blinzelte ihr zu und zitierte Miss Revell, eine der Lehrerinnen des Internats: "Je eher eine Frau den Platz akzeptiert, der ihr von Gott und der Natur zugeordnet worden ist, um so glücklicher wird sie werden."
"Ich werde niemals akzeptieren, daß der Wille eines Mädchens weniger gilt als der eines Knaben." Ellens Lippen umhuschte ein müdes Lächeln. "Ist das Leben nicht ungerecht? Du würdest gern so bald wie möglich heiraten und mußt in der Schule bleiben, während ich am liebsten Schriftstellerin werden würde. Mir würde es überhaupt nichts ausmachen, noch jahrelang zu lernen." Sie rutschte von der Fensterbank und nahm von ihrem Nachttisch ein kleines, in buntes Papier gebundenes Buch. "Das ist für dich, Damaris. Diese Gedichte habe ich nur für dich geschrieben."
Damaris schlug das Büchlein auf. Schweigend blätterte sie eine Seite nach der anderen um. "Sie sind wunderschön", sagte sie und umarmte die Freundin. "Tausend Dank."
Es klopfte.
"Ja, bitte!" rief Ellen.
Ein Hausmädchen in einem dunklen Kleid und einer hellen Schürze trat ein. Es knickste. "Die Kutsche von Rowland Manor ist
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