Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
sich die Zeit, in dem sie in einem der beiden Bücher las, die ihr Mrs. Morford auf die Reise mitgegeben hatte. Mit ihrer schönen Handschrift hatte die Internatsleiterin in beide Bücher eine Widmung geschrieben.
Wie sehr werde ich Sie vermissen, Mrs. Morford, dachte Ellen wehmütig. Sie legte das Buch beiseite und griff nach dem schmalen Päckchen, das ihr Damaris in die Hand gedrückt hatte. In all der Aufregung hatte sie es völlig vergessen. Sorgsam löste sie das Papier.
Das Päckchen enthielt einen weißen Schal aus feinstem Musselin. Damaris hatte ihn sicherlich aus Bristol kommen lassen. Eingepackt in den Schal fand sie eine Fotografie ihrer Freundin. Sie drehte das Bild um. "Wir dürfen einander nie vergessen, deine allerliebste Freundin Damaris", stand auf der Rückseite.
"Wir werden uns bestimmt wiedersehen, Damaris", flüsterte Ellen erneut den Tränen nah.
Als es dunkelte, hielten sie im Hof des Rasthauses, in dem sie jedesmal übernachtet hatten. Will Gibson sprang vom Bock. Er öffnete die Kutschentür. "Bitte warten Sie noch einen Moment, Lady Ellen", bat er. "Ich bin sofort zurück." Er schloß die Tür und verschwand in der Gaststube.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis der Kutscher mit zwei jungen Burschen und einer älteren, sehr behäbig wirkenden Frau zurückkehrte. Es handelte sich um die Wirtin, eine Mrs. Small.
"Wenn Sie mir bitte folgen würden, Mylady", sagte sie, nachdem sie Ellen aus der Kutsche geholfen hatte. "Es ist uns eine große Ehre, Sie begrüßen zu dürfen. Als wir erfahren haben, daß Sie auf Ihrer Fahrt nach Rowland Manor bei uns übernachten, habe ich für Sie unser bestes Zimmer richten lassen."
"Das ist sehr nett von Ihnen, Mrs. Small", antwortete das junge Mädchen müde. Es sehnte sich danach, ein paar Stunden der unbequemen Kutsche zu entkommen. Jeder Knochen tat ihm weh. "Kann ich ein heißes Bad haben, Mrs. Small?"
"Selbstverständlich, Mylady." Die Wirtin führte sie ins Haus. Sie gingen allerdings nicht durch die Gaststube, die gewöhnlichen Gästen vorbehalten blieb, sondern stiegen eine Treppe aus glänzendem Eichenholz hinauf, die in den obersten Stock des Rasthauses führte und zu dem Leute wie Will Gibson keinen Zutritt hatten.
Ellens Zimmer war gemütlich mit einem breiten Bett, Chintz bezogenen Sesseln und einem Tisch, auf dem Blumen standen, eingerichtet. Direkt neben dem Alkoven mit der Sitzbadewanne gab es einen Schrank. Das junge Mädchen hatte ihn noch nie benutzt, weil es unsinnig gewesen wäre, für eine Nacht die Koffer und Reisetaschen auszupacken.
Zwei Mädchen, beide kaum älter als fünfzehn, brachten heißes Wasser und weiche Handtücher. Sie halfen Ellen beim Auskleiden. Alleine hätte sie ihr im Rücken geschlossenes Korsett nicht öffnen können. Wenige Minuten später saß sie in der Badewanne und genoß die Wärme des Wasser. Sie fühlte, wie sie sich langsam entspannte. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich zurück.
Nach dem Bad schlüpfte sie in ein weiches Nachthemd. Während die beiden Mädchen die Wanne entleerten und das Wasser hinunter in den Hof trugen, wurde ihr von der Wirtin persönlich das Abendessen serviert.
"Will sagte uns, daß Sie die Schule abgeschlossen haben. Sie sind sicher froh, nicht mehr nach Silbury Castle zurück zu müssen, Mylady", meinte sie. "Probieren Sie von den Pastetchen. Ich habe sie extra für Sie gebacken."
"Sie sehen köstlich aus, Mrs. Small", erwiderte Ellen höflich. Sie hatte nicht besonders großen Hunger, obwohl sie den ganzen Tag über kaum etwas gegessen hatte.
"Und sie schmecken auch so", erklärte die Wirtin selbstgefällig, während sie mit beiden Händen an ihrer nicht ganz sauberen Schürze hinunterstrich.
Gleich nach dem Essen ging das junge Mädchen zu Bett. Es löschte die Petroleumlampe auf seinem Nachttisch und zog die Decke fast bis zur Nasenspitze hoch. Durch das offene Fenster drang das Mondlicht. So müde Ellen war, sie konnte ihren Blick nicht vom Mond lassen. Sie fühlte eine tiefe Traurigkeit in sich. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, ihr Elternhaus weit hinter sich zu lassen und ihr Leben so gestalten zu können, wie sie es sich vorstellte.
Sie dachte an Mary McKinnon, eine Cousine ihres Vaters. Mary war vor Jahrzehnten von ihrer Familie verstoßen worden, weil sie sich in einen Mann verliebt hatte, der bis auf eine halb verfallene Burg in Schottland kaum etwas besaß. Als Kind war ihr Mary als schlechtes Beispiel vorgehalten worden, wenn sie nicht den
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