Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
eine Tür mit ihrem Zimmer verbunden war. Ein Hausmädchen hatte bereits einen Krug mit Wasser heraufgebracht. Während sie noch damit beschäftigt war, sich umzukleiden, packte ein Mädchen unter Aufsicht der Hausdame ihre Koffer und Reisetaschen aus.
Salon und Schlafzimmer von Lady Georgina, Duchess of Rowland, lagen in einem der Türme im ersten Stock des Hauses. Schon immer hatte sich Ellen hier gern aufgehalten.
Die Gesellschafterin ihrer Großmutter öffnete ihr die Tür. "Wie schön, Sie zu sehen, Lady Ellen", sagte sie herzlich. "Lady Georgina fragt alle fünf Minuten nach Ihnen. Sie hat Sie sehr vermißt."
"Ich habe meine Großmutter auch vermißt", bekannte Ellen. "Mason sagte mir, es würde ihr nicht besonders gut gehen."
Die Gesellschafterin nickte. "Der Arzt ist fast jeden Tag im Haus", erwiderte sie. "Bitte verraten Sie nicht, daß ich es Ihnen gesagt habe."
"Ganz gewiß nicht, Miss Mercy", versprach das junge Mädchen.
Lady Georgina blickte erwartungsvoll zur Schlafzimmertür. Bekleidet mit einem weiten Nachthemd, einer Jacke und ihrer Schlafhaube saß sie im Bett. Auf den ersten Blick bemerkte Ellen, daß ihre Großmutter in den vergangenen Monaten abgenommen hatte. Ihr Gesicht wirkte eingefallen. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Wie krank sie sein mußte, erkannte sie auch an den Tropfen und Pulvern, die in kleinen Gefäßen auf dem Nachttisch standen, der Pflegerin, die bei ihr am Bett saß, und dem Rollstuhl in einer Ecke des Zimmers.
"Endlich, Ellen!" Die alte Dame streckte die Arme nach ihrer Enkelin aus. "Ich habe die Tage bis zu deiner Rückkehr gezählt." In ihren Augen standen Tränen.
Ellen setzte sich vorsichtig auf das breite Bett und ließ sich in die Arme ihrer Großmutter fallen. Erst jetzt fühlte sie, daß sie nach Hause gekommen war. "Es ist schön, bei dir zu sein, Großmama", sagte sie.
"Ich möchte gern mit meiner Enkelin allein sein", bat die alte Dame.
"Kommen Sie, Miss Betty, trinken wir in der Küche eine Tasse Tee und genießen wir diesen herrlichen Frühlingstag", forderte Jenny Mercy die Pflegerin auf.
Lady Georgina wartete, bis sich die Tür hinter den beiden Frauen geschlossen hatte, bevor sie sagte: "Es ist manchmal sehr, sehr lästig, die beiden guten Seelen ständig um mich zu haben."
"Bin ich dir auch lästig, Großmama?" neckte Ellen.
"Nein, du wirst mir niemals lästig sein, mein Kind."
Ellen gab ihrer Großmutter die Süßigkeiten, die sie unter Anleitung der Köchin in Silbury Castle für sie zubereitet hatte. Liebevoll hatte sie die Pralinen in einen kleinen Weidenkorb gelegt.
"Doktor Morstan wird ganz entschieden etwas dagegen haben, wenn ich diese Pralinés esse", meinte Lady Georgina und steckte sich eines in den Mund. "Sie schmecken herrlich, Ellen."
"Ich kenne deine Liebe zu Pralinés, Großmama", meinte das junge Mädchen lachend.
"Danke für deinen letzten Brief mit den Gedichten, Ellen." Ihre Großmutter stellte das Weidenkörbchen auf den Nachttisch. "Sie sind sehr schön. Ich wünschte, dein Vater würde sich für deine Gedichte interessieren. Er hat sich geweigert, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Und deine Mutter meinte, es wäre besser, dich nicht auch noch in derartigen Dingen zu unterstützen. Für dich sei einzig und allein wichtig, später einem Haushalt wie diesem vorzustehen und deinem zukünftigen Mann mit tadellosem Benehmen Ehre zu machen."
"Ich möchte nicht heiraten, wenigstens jetzt noch nicht", sagte Ellen und erzählte vom letzten Brief ihrer Mutter. "Ich wünsche mir nichts sehnlichster, als Schriftstellerin zu werden."
"Wie gern würde ich dir dabei helfen, Ellen", meinte Lady Georgina. "Deine Eltern werden kaum mit sich darüber reden lassen. Du wirst sehr viel Kraft brauchen, wenn du ihnen die Stirn bieten willst. Und glaub mir, sie werden alles tun, um deinen Willen zu brechen."
Ellen fühlte, wie traurig es ihre Großmutter machte, so mit ihr zu sprechen. Rasch wechselte sie das Thema und erzählte, wie sie Ostern mit ihren Freundinnen im Internat verbracht hatte. Schon bald merkte sie, wie die alte Dame ermüdete. Deshalb war sie froh, als die Pflegerin zurückkehrte.
"Morgen besuche ich dich wieder, Großmama", versprach sie und küßte Lady Georgina zum Abschied auf die Stirn.
Bis zum Tee mit ihren Eltern und ihrem Bruder war noch über eine Stunde Zeit. Ellen beschloß, in den Park zu gehen. Sie holte Hut und Handschuhe aus ihrem Zimmer und verließ das Haus durch einen der
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