Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
Seiteneingänge.
Während das junge Mädchen dem Weg in Richtung Dorf folgte, den es ganz automatisch eingeschlagen hatte, dachte es über sein Gespräch mit der Großmutter nach. Wenigstens ihre Großmutter stand auf ihrer Seite. Ein Trost konnte das für sie allerdings nicht sein. So sehr ihr Vater auch seine Mutter verehrte, ihre Meinung galt ihm nur wenig. Das hatte Ellen schon als Kind herausgefunden. Und wenn ihm schon die Meinung seiner Mutter nichts galt, wie sollte sie dann gegen ihren Vater bestehen?
Kein Mädchen sollte zu einer Ehe gezwungen werden, dachte Ellen. Sie hatte seit ihrer Kindheit schon mehrmals an einer Hochzeit als Brautjungfer teilgenommen. Die Frage des Pfarrers an das Brautpaar, ob man bereit war, in guten und in schlechten Tagen sein Leben mit dem anderen zu teilen, erschien ihr wie Hohn. Meistens wurden die Ehen in ihren Kreisen von den Eltern arrangiert und das künftige Ehepaar kannte sich kaum.
Ellen erreichte die Stallungen. Aus dem geschlossenen Hof klangen das Wiehern der Pferde und die Stimmen der Stallburschen. Sie beschloß, am nächsten Vormittag ein Stück auszureiten.
Tief in Gedanken ging sie weiter. Auf dieser Seite des Parks gab es keine Hecke, die ihn gegen die Umgebung abgrenzte. Die gepflegten Rasenflächen gingen in Weideland über. Rechts führte ein Fußpfad zum Dorf, links zu den Klippen. Etwas abseits stand das Haus des Gärtners. Die Rosen, die sich an dem Gebäude fast bis zum Dach hinaufrankten, verbargen, daß es schon längst hätte renoviert werden müssen. Hinter dem Haus lag ein mit einer niedrigen Hecke umgebener Gemüsegarten, der von der Frau des Gärtners betreut wurde. Vor dem Haus blühten Unmengen von Blumen wild durcheinander.
Das junge Mädchen wußte genau, daß es hier eigentlich nichts verloren hatte, dennoch schritt es auf das Haus zu. Vielleicht war Joshua daheim.
Ellen hatte Pech. Auf ihr Klopfen an der Haustür antwortete niemand. "Mrs. Bradley!" rief sie. "Mrs. Bradley, sind Sie da?" Sie ging um das Haus herum. Der Garten lag verwaist vor ihr.
Sie wollte schon gehen, als sie Joshua Bradley den Weg vom Dorf heraufkommen sah. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Es fiel ihr schwer, ihrem Freund aus Kindertagen nicht entgegenzulaufen. Wie ernst und würdevoll er wirkte! Sie konnte sich vorstellen, daß er ein sehr guter Lehrer war, der sich bei den Kindern auch ohne sie ständig zu züchtigen Respekt verschaffen konnte.
Joshua Bradley blieb stehen, als er Ellen gewahrte. Er hatte nicht damit gerechnet, ihr schon an diesem Tag zu begegnen. Wie hatte er sich auf das Wiedersehen mit ihr gefreut und es gleichzeitig auch gefürchtet. Der junge Mann liebte Ellen von ganzem Herzen, er wünschte sich nichts sehnlichster, als ihr diese Liebe gestehen zu können, aber das war unmöglich. Sie war die Tochter des Duke of Rowland, er nur der Sohn des Gärtners, der es durch die Gunst des Herzogs geschafft hatte, Lehrer zu werden. Nein, Lady Ellen war für ihn so unerreichbar, als würde sie auf dem Mond leben.
Ellen machte ein paar Schritte auf ihn zu. "Joshua", sagte sie leise. "Joshua, wie geht es dir?"
"Danke, Lady Ellen, mir geht es sehr gut", antwortete er steif und zwang sich, sie nicht an sich zu reißen. "Wie schön, daß Sie nach Rowland Manor zurückgekehrt sind. Wir freuen uns alle darüber."
"Lady Ellen?" fragte das junge Mädchen. "Es gab eine Zeit, da hast du mich heimlich Ellen genannt. Selbst noch im letzten Jahr. Du gehörst zu den wenigen Menschen, die mir auf Rowland nahestehen." Sie streckte zaghaft die Hand aus, berührte seine Wange. Ihre Augen hielten die seinen fest. "Wir sind allein Joshua."
"Sie sind kein Kind mehr, Lady Ellen, sondern fast achtzehn", antwortete er. "In wenigen Monaten werden Sie in die Gesellschaft eingeführt und..."
"Also sollten wir die Zeit nutzen, die uns noch bleibt", sagte sie und blickte ihm noch immer in die Augen.
Joshua Bradley konnte nicht länger widerstehen. Impulsiv nahm er sie in die Arme und küßte sie auf die Wange. "Ich habe sehr oft an dich gedacht, Ellen", gestand er.
"So wie ich an dich", erwiderte sie und schmiegte sich an ihn.
* * *
Während der nächsten Wochen gelang es Lady Ellen und Joshua Bradley oft, sich heimlich zu treffen, ohne daß neugierige Augen sie dabei beobachten konnten. Zwar mußte sich das junge Mädchen auf jedem Ausritt einem Stallburschen begleiten lassen, doch niemand hinderte es daran, allein lange Spaziergänge zu unternehmen. Meist nahm sie auf diese
Weitere Kostenlose Bücher