Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
mit einem mit Spitzen besetztem Taschentuch die Augen betupfte, so, als könnte sie ihre Tränen kaum noch zurückhalten.
"Geht es Großmama so schlecht?" fragte sie erschrocken.
"Ja", erwiderte Lady Victoria. "Es ist für uns alle sehr schmerzlich. Wie uns Doktor Morstan wissen ließ, müssen wir damit rechnen, daß deine Großmutter nicht mehr lange unter uns weilt."
Ellen spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Sie sah ja selbst, wie es ihrer Großmutter von Tag zu Tag schlechter ging, allerdings hatte sie gehofft, daß es sich nur um eine vorübergehende Schwäche handelte.
"Wie du sehr wohl weißt, solltest du in diesem Jahr in London in die Gesellschaft eingeführt werden, Ellen", fuhr ihre Mutter fort. "Es spricht nichts dagegen, daß dieses Ereignis auch auf Rowland Manor stattfinden kann. Du wirst bald achtzehn, das richtige Alter für eine junge Dame, an eine zukünftige Heirat zu denken. Dein Vater und ich hoffen, daß wir noch vor Ende der Saison deine Verlobung verkünden können."
"Bitte verzeih, Mutter, ich möchte nicht so bald heiraten", wandte Ellen ein. "Ich würde so gern Schriftstellerin werden und..."
"Schriftstellerin!" Die Herzogin lachte auf. "Miss Cooper, haben Sie das gehört? Meine Tochter möchte nicht heiraten, sondern Schriftstellerin werden!" Ihre Lippen kräuselten sich zu einem ironischen Lächeln. "Welch ein Glück, daß es in unserer Macht liegt, diesem Unsinn Einhalt zu gebieten."
"Mutter, mein ganzes Herz hängt am Schreiben. Bitte versuch, mich zu verstehen", bat Ellen. "Wenn ich schreibe..."
"Ellen, hör auf damit!" befahl Lady Victoria erregt. "Ich will davon nichts mehr hören. Schlag dir diesen Unsinn endlich aus dem Kopf und fülle ihn mit wichtigeren Dingen. Es ist ein Fehler gewesen, dich solange zur Schule zu schicken. Diese Schulen bringen nur Mädchen hervor, die glauben, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können." Sie blickte zu ihrer Gesellschafterin hinüber. "Sie sind sicher auch dieser Meinung, Miss Cooper?"
"Ich kann Ihnen da nur beipflichten, Lady Victoria", sagte Abigail Cooper devot.
Wie sollte es auch anders sein, dachte Ellen. Sie wollte etwas sagen, doch ihre Mutter fuhr fort:
"Wäre dein Vater nicht der Meinung, daß sich die meisten Männer in unseren Kreisen heutzutage eine Gemahlin wünschen, die sich auch noch über anderes unterhalten kann, als über das, was einer Lady angemessen ist, hättest du niemals Silbury Castle besucht." Lady Victoria griff nach ihrem Fächer und wedelte sich Luft zu. "Denk an Mary, Ellen, auch sie auch versucht, sich dem Willen ihrer Familie zu widersetzen. Es widerstrebt mir zwar, dich ständig auf das Schicksal dieser bedauernswerten Person hinweisen zu müssen, leider läßt du mir keine andere Wahl."
Ellen wollte ihre Mutter nicht noch wütender machen, deshalb unterließ sie es, sie daran zu erinnern, daß Mary seit Jahren verheiratet war und in Schottland lebte. Sie wandte den Blick erneut durch die Terrassentür, wünschte sich weit fort an einen Ort, an dem Frauen nicht gezwungen wurden, Männer zu heiraten, die sie nicht liebten.
"Miss Cooper hat bereits die Schneiderin bestellt, um dich für deine Ballsaison auszustatten." Lady Victoria schüttelte mißbilligend den Kopf. "Jedes andere junge Mädchen wäre glücklich über die Aussicht, neue Kleider zu bekommen. Wie kann man nur so undankbar sein?" Aufseufzend fügte sie hinzu: "So und nun geh hinauf und kleide dich für das Dinner an."
Ellen stand wortlos auf und verließ den Salon. Nicht eben leise schloß sie die Tür hinter sich, dann rannte sie die Treppe hinauf und flüchtete sich in die Sicherheit ihres Zimmers. In einem Anfall von Trotz schob sie den Riegel vor, so, als wollte sie sich selbst beweisen, daß es in ihrer Macht lag, jemanden in ihr Zimmer einzulassen, oder auch nicht.
Lange nach dem Dinner, ihre Familie und die Dienerschaft schliefen längst, schlich Lady Ellen durch die Halle zum Seitenausgang des Hauses. Sehr leise schob sie den Riegel der Tür zurück und trat in den vom Mondlicht überfluteten Park.
Das junge Mädchen trug seinen Reitanzug, obwohl es nicht vorhatte, noch auszureiten, doch es war praktischer, als ein weiter mit Spitzen besetzter Rock, der es nur daran gehindert hätte, den Klippenweg zum Strand hinunterzusteigen.
Auf dem Weg zu den Klippen begegneten Ellen nur zwei Katzen, die einträchtig miteinander durch das Gras strichen. Ab und zu schaute sie sich um, um sich zu vergewissern, daß
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