Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
zu diesem Anlaß tragen sollte, hing bereits in ihrem Kleiderschrank. Jedesmal, wenn sie es betrachtete, wünschte sie sich, den Mut aufzubringen, es zu zerschneiden. Sie wollte nicht in die Gesellschaft eingeführt werden. Es kam ihr vor, als würde man sie wie ein Stück Vieh auf dem Markt zur Schau stellen.
Und sie machte sich auch Sorgen um ihre Großmutter. Es ging ihr noch nicht besser. Dr. Morstan verschrieb ihr fast jede Woche ein anderes Mittel. Lady Georgina hatte kaum noch Appetit. Seit Ellens Heimkehr von der Schule hatte sie erst zweimal ihr Zimmer verlassen, um von ihrer Pflegerin im Rollstuhl durch den Park geschoben zu werden.
Wann immer es ging, hielt sich Ellen bei der alten Dame auf. Manchmal bewachte sie sogar ihren Schlaf. Soweit sie zurückdenken konnte, war ihre Großmutter für sie dagewesen. Nicht zu ihrer Mutter, sondern zu Lady Georgina hatte sie sich geflüchtet, wenn sie als kleines Mädchen Kummer gehabt hatte.
"Erlaube es einer alten Frau egoistisch zu sein, Ellen", meinte Lady Georgina an diesem Vormittag, als das junge Mädchen gleich nach dem Frühstück zu ihr gekommen war, um ihr ein paar Gedichte vorzulesen, die es geschrieben hatte. "Über das vorzeitige Ende deiner Schulzeit bin ich unendlich froh."
"Ich bin dir deswegen nicht böse, Großmama", versicherte Ellen. Sie legte das Heft zur Seite. "Als mir Mutter schrieb, daß ich nach Hause kommen muß, ist der Gedanke an dich mein einziger Trost gewesen."
"Nur der Gedanke an mich?" fragte Lady Georgina.
Ihre Enkelin errötete. "Natürlich freute ich mich auch darauf, Joshua zu sehen", gestand sie. "Damals war es nur Freundschaft, heute... Es muß Liebe sein, was ich für ihn empfinde. Allein schon wenn ich an ihn denke, schlägt mein Herz viel schneller. Ich möchte immerzu mit ihm zusammen sein. Er..."
Lady Georgina legte einen Finger auf ihre Lippen, weil in diesem Moment die Pflegerin hereinkam, um nachzusehen, ob sie etwas brauchte.
"Ich bin mit allem wohl versorgt, Betty", sagte sie. "Warum gehen Sie nicht ein Stückchen spazieren? Das Wetter ist heute herrlich, wie ich durch das Fenster sehen kann. Sie könnten mir einen Strauß Astern mitbringen."
"Das werde ich gern tun, Lady Georgina", versprach die Pflegerin und ging hinaus.
"So, nun wären wir endlich allein." Die alte Dame wies auf den Krug, der auf der Anrichte stand. "Bitte bring mir ein wenig Limonade, Kind", bat sie. "Und öffne das Fenster. Ich liebe es, wenn die Sonnenstrahlen mein Gesicht berühren."
Ellen stand auf und schenkte für ihre Großmutter ein Glas Limonade ein. Nicht ohne Bedenken öffnete sie das Fenster. Dr. Morstan hielt nicht viel von frischer Luft in Krankenzimmern. Sorgfältig zog sie die Bettdecke ihrer Großmutter ein Stückchen höher.
"So schnell erkälte ich mich nicht, Ellen", meinte Lady Georgina. Sie nippte an ihrer Limonade. "Ich wäre auch sehr gern zur Schule gegangen. Zu meiner Zeit war es noch üblich, Mädchen, wenn überhaupt, nur durch eine Gouvernante unterrichten zu lassen. Wir können Königin Victoria nicht dankbar genug dafür sein, daß sie die allgemeine Schulpflicht eingeführt hat. So dürfen auch die Kinder unserer Pächter wenigstens auf etwas Schulbildung hoffen. Ich kann mich noch daran erinnern, was für endlose Debatten ich mit deinem Großvater über dieses Thema geführt habe. Er meinte, es sei nicht gut, wenn unsere Untergebenen Lesen und Schreiben könnten. Es würde sie nur widerspenstig und aufsässig machen."
"Ich kann mir nicht vorstellen, daß es meinem Vater gefallen hat, eine Schule einrichten zu müssen."
"Ganz und gar nicht." Die alte Dame schloß die Augen. "Mary war nur ein wenig älter als du es heute bist, als man sie mit einem Mann verheiraten wollte, der gut und gern ihr Vater hätte sein können. Er gehörte dem Oberhaus an und war ein Freund Prinz Alberts. Sie weigerte sich, sich mit ihm zu verloben. Mein Schwager versuchte alles, um seine Tochter gefügig zu machen, er drohte ihr sogar damit, sie als Dienstmagd nach Australien zu schicken. Wie habe ich Mary damals bewundert, weil sie sich trotz aller Drohungen nicht fügte. Sie bestand darauf, einen schottischen Laird zu heiraten, den sie wenige Monate zuvor bei einem Empfang im Buckingham Palast kennengelernt hatte."
Ellen kannte die Geschichte. Ihre Großmutter hatte sie in den vergangenen Wochen immer wieder erzählt. In ihrer Version klang sie anders, als wenn ihre Mutter sie an Marys Schicksal erinnerte, um ihren
Weitere Kostenlose Bücher