Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
mit Anabels Tasche.
Die Verletzte wurde auf ein Sofabett in der Wohnung der Postmeister-Familie gebettet. "Kann ich Sie ein paar Minuten mit ihr allein lassen?" fragte die Postmeisterin, nachdem sie die Kopfwunde der jungen Frau verbunden hatte. "Ich muß nach dem Arzt und der Polizei schicken. Mein Mann kümmert sich um den Kutscher und die Pferde."
"Es macht mir nichts aus, mit Miss Curtis allein zu bleiben." Darcey setzte sich so auf das Sofa, daß sie Anabels Hand halten konnte.
Anabel schlug erneut die Augen auf. Sie sah Darcey an.
"Haben Sie Schmerzen?"
"Nein." Anabels Stimme klang kraftlos. "Ich bin müde, so müde."
"Der Arzt wird bald hier sein." Darcey tupfte ihr mit einem weichen Tuch den Schweiß von der Stirn.
Noch immer sah Anabel sie an. Nach und nach verdunkelte sich ihr Blick. Ihr Kopf fiel zur Seite und ihre Hand, die Darcey hielt, wurde schlaff.
"Miss Curtis!" stieß Darcey entsetzt hervor. "Miss Curtis!" Sie ist tot, dachte sie, tot. Fürsorglich schloß sie Anabels Augen. Es wunderte sie, daß sich die Haut der jungen Frau warm anfühlte. Sie griff nach ihrem Puls. Nein, sie irrte sich nicht, Anabel Curtis lebte nicht mehr.
Die Postmeisterin kehrte zurück. "Das arme, junge Ding", meinte sie mitleidig. "In der Zwischenzeit sind noch zwei weitere alleinreisende Damen eingetroffen. Ich mache frischen Tee. Am besten, Sie gehen zu ihnen. Für die arme Miss können Sie nichts mehr tun."
Darcey schüttelte den Kopf. Auch wenn sie nichts mehr für Anabel Curtis tun konnte, sie wollte noch ein paar Minuten bei ihr bleiben. "Ich werde den Tee nachher trinken", antwortete sie. "Ich schaffe es nicht, sie allein zu lassen."
"Wie Sie meinen", erwiderte die Postmeisterin und ging hinaus.
Die Minuten verrannen. Darcey blickte zu der Uhr, die in der Nähe der Tür stand. Die Kutsche nach Coventry fuhr in fünfundvierzig Minuten ab. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie mit ihr mitfahren würde. Die Polizei war noch nicht da. Bevor man sie vernommen hatte, konnte sie die Poststation nicht verlassen.
Sie überlegte, ob sie eine Depesche an die Denhams schicken sollte. Immerhin wurde Anabel Curtis von ihnen erwartet. Die Familie mußte erfahren, was passiert war.- Mußte sie es wirklich? Ein wahnwitziger Gedanke schoß durch Darceys Kopf. Man kannte Anabel auf Denham Manor nicht. Was würde sein, wenn sie als Anabel Curtis nach Cornwall fuhr?
Du mußt verrückt sein, dachte sie, absolut verrückt!
War es wirklich so verrückt? Es würde für sie nicht leicht sein, in Schottland eine Arbeit als Gouvernante zu finden. Auf Denham Manor wurde eine Gouvernante gebraucht. Anabel Curtis war tot. Sie... Darcey beugte sich über die Tote. "Bitte verzeihen Sie mir", bat sie. "Ich wäre dumm, wenn ich diese Chance nicht nützen würde."
Es wirkte, als würde Anabel lächeln. Darcey war sich sicher, daß sie sich dieses Lächeln nur einbildete und dennoch nahm sie es als Zustimmung. Langsam, unendlich langsam griff sie nach der bunten Tasche, in der sich die Papiere der Toten befanden.
* * *
Darcey lehnte sich völlig erschöpft im Wagen zurück. Vor einer halben Stunde war sie in der Poststation bei Tintagel angekommen. An und für sich hatte sie gehofft, in der Poststation übernachten zu können, doch die beiden Zimmer, die für alleinreisende Damen gedacht waren, hatten nicht mehr zur Verfügung gestanden, so war ihr nichts weiter übrig geblieben, als das Angebot des Postmeisters anzunehmen, sie von seinem Sohn nach Denham Manor bringen zu lassen.
Die letzten dreißig Stunden waren für die junge Frau ein einziger Alptraum gewesen. Nachdem der Arzt den Tod von Anabel Curtis bestätigt hatte und alle Zeugen durch einen Konstabler vernommen worden waren, hatte sie endlich weiterfahren können. In der Postkutsche, die sie zur nächsten Station gebracht hatte, war von nichts anderem die Rede gewesen, als von dem Unfall der jungen Frau. Jedes Wort ihrer Reisegefährten hatte sich wie ein Pfeil in Darceys Herz gebohrt.
Obwohl sie sich sagte, daß Anabel Curtis sicher nichts dagegen haben würde, wenn sie nun an ihrer Stelle den Posten bei den Denhams antrat, fühlte sie sich unendlich schuldig. Von Kindheit an hatte man ihr beigebracht, daß sie unter keinen Umständen lügen durfte. In ihrer Familie hatte Lügen als Todsünde gegolten. Sie war sich zwar sicher, daß sich Lucy Marlow keineswegs an diese Regel gehalten hatte, doch von ihr und Alice war absolute Wahrheit verlangt worden. Nun mußte sie
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