Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
hinunter. Sie war einfach zu müde.
Schon halb im Schlaf löschte sie die Petroleumlampe und ging im Schein der Kerze, die auf ihrem Nachttisch stand, zu Bett. Mit letzter Kraft blies sie die Kerze aus. Verzeih mir, Anabel, bitte verzeih mir, dachte sie noch, bevor sie einschlief.
* * *
Trotz ihrer Müdigkeit hatte Darcey kaum geschlafen. Wenngleich sie sich bemüht hatte, nicht an Anabel Curtis zu denken, hatte sie immer wieder das Gesicht der jungen Frau vor sich gesehen. Nach wie vor fragte sie sich, ob es richtig war, was sie tat. Rechtfertigte die verzweifelte Lage, in der sie sich befunden hatte, den eingeschlagenen Weg? – Es war ohnehin zu spät. Sie konnte nicht mehr zurück. Nun lag sie in dem Bett, das für Anabel Curtis bestimmt gewesen war. Ihr blieb nur noch der Weg nach vorn. Unmöglich, den Denhams zu gestehen, daß sie sich unter falschem Namen bei ihnen eingeschlichen hatte.
Darcey drehte sich zur anderen Seite. Vergeblich versuchte sie, noch ein wenig zu schlafen. Sie dachte an ihre Familie, überlegte, was ihre Tante und ihr Onkel wohl unternommen hatten, um nach ihr zu suchen. Sie konnte nur hoffen, daß sie wirklich annahmen, sie wäre an Bord eines Schiffes gegangen. Ob man schon Sir William von ihrer Flucht unterrichtet hatte? Er würde außer sich vor Wut sein. Frauen galten ihm nicht viel. In seinen Augen waren Frauen nur dazu geschaffen worden, sich dem Willen der Männer zu unterwerfen.
Die junge Frau richtete sich auf und zündete die Kerze auf ihrem Nachttisch an. Anhand der Taschenuhr, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, sah sie, daß es kurz nach sieben war. Höchste Zeit, um aufzustehen. Sie wollte gerade aus ihrem Bett schlüpfen, als es klopfte. "Ja, bitte!" rief sie.
Ein Hausmädchen betrat ihr Zimmer. "Guten Morgen, Miss Curtis", sagte es. "Ich bringe Ihnen Ihren Morgentee." Sie trat an Darceys Bett und stellte die Tasse auf den Nachttisch.
"Guten Morgen", antwortete Darcey überrascht. Sie war es nicht gewohnt, Tee ans Bett zu bekommen. "Wie heißen Sie?"
"Maud."
"Danke für den Tee, Maud."
"Soll ich die Vorhänge zurückziehen?" fragte das Mädchen. "Draußen ist es noch so dunkel, als sei es tiefe Nacht."
"Ich werde die Vorhänge später zurückziehen", sagte Darcey.
Das Mädchen schüttete das Wasser aus der Waschschüssel in den Krug zurück, trocknete die Schüssel mit einem Tuch aus und ging mit dem Krug zur Tür. "Ich bringe Ihnen gleich heißes Wasser", versprach es und verließ das Zimmer.
Eine Gouvernante, die morgens Tee ans Bett bekam! Darcey konnte es nicht fassen. Wie es aussah, würde sich ihre Arbeit auf Denham Manor als äußerst angenehm gestalten. Trotz ihres schlechten Gewissens, begann sie, die Situation zu genießen.
Die junge Frau hatte sich kaum gewaschen und angezogen, als ihr von Maud das Frühstück serviert wurde. Inzwischen war auch das Feuer im Kamin neu entfacht worden. Von ihrem Tisch aus blickte sie durch das Fenster auf den erwachenden Morgen. Langsam wurde es heller und sie konnte die hohen Bäume im Park erkennen. Irgendwo bellte ein Hund. Ein zweiter antwortete.
Nachdenklich löffelte sie ihren Porridge.
Da Darcey auf Mrs. Fletcher warten mußte, die sie hinunter bringen wollte, begann sie nach dem Frühstück ihre Reisetaschen auszupacken. Das Schmuckkästchen ihrer Mutter verstaute sie in der untersten Schreibtischschublade. Sie nahm nicht an, daß sie viel Gelegenheit haben würde, den Schmuck zu tragen. Es waren einige wertvolle Stücke dabei, die nicht zu einer Gouvernante paßten.
Mrs. Fletcher kam kurz nach halb zehn. Sie war genauso freundlich wie am vergangenen Abend. "Lord und Lady Denham sind bereit, Sie zu empfangen, Miss Curtis ", sagte sie. Ihr Blick glitt prüfend über die junge Frau, so als wollte sie sich davon überzeugen, daß es nichts an Kleidung und Frisur auszusetzen gab.
Auf dem Weg in die Halle begegneten ihnen im ersten Stock nur zwei Hausmädchen, die damit beschäftigt waren, die Schlafzimmer zu putzen, solange sich Lord und Lady Denham im Erdgeschoß aufhielten. Grüßend nickten sie ihnen zu.
Der Butler kam aus dem Salon. "Guten Morgen, Miss Curtis ", sagte er. "Ich hoffe, Sie haben in Ihrer ersten Nacht auf Denham Manor gut geschlafen."
"Danke, Mr. Rice", erwiderte Darcey.
"Bitte melden Sie Miss Curtis den Herrschaften, Mr. Rice", bat die Wirtschafterin.
Der Butler nickte würdevoll. Er wandte sich erneut dem Salon zu, klopfte und trat ein. Gleich darauf kehrte er zurück und bat Darcey,
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