Flucht nach Colorado
keinen Fall riskieren, krank zu werden.
Er wandte sich Emily zu: „So etwas darf nicht noch einmal passieren."
„Ich hatte nicht geplant, einer Schlange über den Weg zu laufen", entgegnete sie.
„Ich dachte, Sie wären eine geübte Bergsteigerin, erfahren in Extremsituationen."
„Es sei denn, es geht um Schlangen", sagte sie kleinlaut.
Nachdem sie die ganze Zeit diejenige gewesen war, die ihr Wissen und ihre Fähigkeiten demonstriert hatte, hatte sich ihr Verhältnis nun fast unmerklich verändert. Jetzt, wo er Zeuge ihrer Schlangenphobie geworden war, fühlte er sich nicht länger wie ein Idiot, der in den Bergen nicht zurechtkam. Endlich konnte auch er etwas Sinnvolles beitragen. „Ich bin ziemlich sicher, dass die Schlangen hier demnächst in Winterschlaf fallen.
Und in der Nacht verstecken sie sich. Hier draußen ist es viel zu kalt für Reptilien. Wir werden also keine mehr sehen."
„Versprochen?" Sie wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Ein krampfhaftes Zucken durchfuhr ihren schlanken Körper.
Am liebsten hätte Jordan sie in die Arme genommen und sie getröstet, aber er war sich nicht sicher, ob sie seine Umarmung erwidern oder ihm ins Gesicht schlagen würde. Er befürchtete Letzteres. „Möchten Sie sich hinsetzen und ein paar Minuten ausruhen?"
„Nein! Ich will so viel Abstand wie möglich zu diesem Reptil bekommen."
„Nichts dagegen." Er nahm die topografische Karte aus seiner Jeanstasche. „Lassen Sie mich aber zuerst mal die Lage checken."
Er starrte in nordöstliche Richtung und entdeckte einen hohen, gezackten Granitfelsen.
„Sind das die Schornstein-Felsen, die auf der Karte eingezeichnet sind?"
„Ja", antwortete Emily. „Lassen Sie uns losgehen. Ich kenne den Weg bis zur Hütte."
Er misstraute ihrer Bereitschaft, ihm zu helfen, zudem würde jetzt ganz schnell die Nacht hereinbrechen. In der Dunkelheit musste er sich auf den Kompass verlassen.
Auf der Karte entdeckte er im Norden eine eingezeichnete Holzbrücke. Schnell errechnete Jordan den Kurs, den er auf zwölf Grad Nordost ansetzte. „In der Nähe der Hütte gibt es vermutlich eine Straße. Richtig?"
„Einen Pfad", sagte sie. „Der wird von der Forstverwaltung unterhalten."
Er balancierte den Kompass in seiner Hand. Die untergehende Sonne stand hinter ihnen. Er konnte bereits die Kühle in der Luft spüren. „Lassen Sie uns gehen."
In gleichmäßigem Tempo erklommen sie Berge und überquerten weitere Wiesen. Als die Dunkelheit sie umfing, übernahm Jordan die Führung mit dem Kompass.
Plötzlich stolperte Emily. „Au! Jordan, ich habe Taschenlampen in meinem Rucksack. Die sollten wir benutzen."
„Ich habe eine bessere Idee", sagte er. „Warum hängen wir nicht einfach ein Neonschild auf, auf dem steht: Hier sind wir."
„Die Suchtrupps sind so spät nicht mehr unterwegs", brummte sie.
„Und wenn, dann sehen wir sie rechtzeitig. Weil die nämlich klug genug sind, Taschenlampen zu benutzen."
Da hatte sie allerdings Recht. Er konzentrierte sich darauf, Lichtstrahlen in dem sie umgebenden Wald zu entdecken. Auch wenn es eher unwahrscheinlich war, bei Nacht gefasst zu werden, so hatte er trotzdem Angst, in einen Hinterhalt zu geraten. Jedes Geräusch kam ihm jetzt um ein Vielfaches lauter vor. Das Knacken von Ästen unter seinen Schuhen. Das Rauschen des Windes. Gelegentliche Schreie von Raubvögeln. Und Jordan war der Gejagte.
Gut bewaffnete Polizisten mit Gewehren und Handfesseln waren hinter ihm her. Suchtrupps mit Bluthunden. Vielleicht hatten sie ihm eine Falle gestellt und warteten bereits in der Hütte auf ihn.
„Woher wissen Sie, dass wir uns nicht verirren?" wollte sie wissen.
„Ich benutze den Kompass."
„Wir hätten die Hütte schon längst erreichen müssen", behauptete sie. „Es ist spät. Wir können nicht mehr lange weitergehen."
„Wir werden sie finden."
„Wissen Sie", fuhr sie fort, „andauernd verlaufen sich Leute in den Bergen. Hier gibt es meilenweit offenes Gelände."
„Ich sagte, wir finden diese verdammte Hütte."
Er hatte die Regeln des Navigierens gelernt, als er mit einem fünf Meter langen Segelboot auf dem Golf von Mexiko unterwegs gewesen war, und die gleichen Regeln galten auch an Land. Er wäre auch in der Lage gewesen, seine Position an den Sternen abzulesen, allerdings war der Himmel über Colorado so klar und die Sterne strahlten so zahlreich und ungewohnt hell, dass es ihn verwirrte. Also schaute Jordan nicht länger nach oben.
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