Flucht über den Himalaya
Schlägen und Tritten zur Strecke brachten.
Das war Sujas Kindheit. Sie endete, als er sieben war, mit dem Besuch seiner Tante.
»Ihr habt vier Kinder und seid arm«, sagte die Tante zu Sujas Eltern, »wir haben kein einziges und sind reich. Gebt mir einen eurer Jungen, damit er auf unsere Tiere aufpassen kann.«
Die Brüder hatten Angst vor dem verbitterten Blick der Tante, Suja nicht. Und so war er es, den die Mutter ihrer kinderlosen Schwester anvertraute. Der Weg zum Dorf der reichen Verwandten war weit, und irgendwann hatte Suja aufgehört zu zählen, wie oft der Bus nach links und rechts abgebogen war …
Der Mönch auf seinem hölzernen Stuhl beginnt zu zittern. Vor Kälte oder Angst. Vielleicht ist es auch die Erschöpfung. Mehr als dreißig Verhöre hat er schon hinter sich. Und immer noch schweigt er. Der Polizeichef, der das Verhör leitet, läßt seinen Häftling heute warten. Vielleicht würde die zermürbende Ungewißheit schlimmer zu ertragen sein als der körperliche Schmerz. Auf einem Tisch liegt die Gerätschaft schon bereit.
Zwei Polizisten in Zivil schleppen einen Generator zur Tür herein. Das ist neu für Suja, nicht aber für den Mönch. Er schließt die Augen, versinkt nach innen. Betet er? Wie hat er es geschafft, so lange durchzuhalten? Manche Häftlinge stöhnen, bevor es noch richtig losgeht. Andere versuchen das Äußerste, doch irgendwann bringt der Boss auch sie zum Brüllen. Dann dauert es meist nicht mehr lange, bis sich die überdrehten Schmerzensschreie zu Worten formen, auf die Suja unruhig wartet, weil sie Erlösung bringen – wenigstens für dieses Mal. »Jeder Häftling hat die Wahl«, erklärt der Polizeichef den jungen Wujings, die noch frisch und knieweich sind, »wenn es ihm zuviel wird, ist er endlich bereit für die Wahrheit.«
Diese Wahrheit zu übersetzen ist Sujas Aufgabe.
Die Polizisten in Zivil haben eine Rolle Draht dabei. Sehr dünnen Draht. Suja soll den Häftling auffordern, seinen Mund zu öffnen.
»Kushola«, sagt Suja, »– ehrwürdiger Mönch. Du sollst deinen Mund öffnen. Bitte tu es, ansonsten wird es nur noch schlimmer für uns alle.«
Der Mönch schaut Suja mit einem sonderbaren Blick an und öffnet den Mund. Die Polizisten wickeln den Draht um die wenigen Zähne, die dem Alten nach seinem entbehrungsreichen Leben geblieben sind. Als sie den Draht mit dem Generator verbinden, hält Suja dem Blick des Mönchs nicht länger stand. Mag sein, daß er im nächsten Leben schlimmere Qualen wird erdulden müssen als dieser kleine Mann, dem nicht einmal der Folterstuhl die Würde nehmen kann.
Dann kommt der Chef, und seine braune Uniform ist noch zerknittert von dem Verdauungsschläfchen, das er jeden Mittag hält. Doch sein Schritt ist flott und voller Tatendrang: Heute will er endlich sein Geständnis haben. Es wird Zeit, den Häftling für den Gerichtsprozeß freizugeben. Seine erste Frage an den Häftling, die Suja übersetzen soll, ist:
»Dein Kollege sagt, du warst drei Jahre in Indien. Was hast du in Indien gemacht?«
»Kyi lerok gi kyo Gyakar ra song ni lo sum gor song si. Kyi Gyakar ni chishik le?«
»Nga jalkor ra song-ni.«
»Er sagt, er war auf Pilgerreise«, übersetzt Suja.
»Drei Jahre auf Pilgerreise?«
»Indien ist groß, und meine alten Beine sind schwach.«
»Wohin ging die Pilgerreise? Nach Dharamsala? Zum Dalai?«
»Nein, nach Bodh Gaya, dem Geburtsort des Buddha.«
»Nicht zum Dalai nach Dharamsala?«
»Nein, nach Bodh Gaya.«
»Warum haben wir dann Bücher des Dalai in deinem Gepäck gefunden?«
»Jemand hat sie mir mitgegeben. Für einen Freund. Ich selbst kann weder lesen noch schreiben. Ich dachte, es seien Bücher über tibetische Medizin.«
»Wer ist dieser Freund?«
Der Mönch schweigt.
»Wie heißt der Freund, dem du diese Bücher bringen solltest?«
Der Mönch schweigt.
Der Polizeichef gibt seinen Helfern ein Zeichen. Ein Polizist in Lederjacke stellt den Generator an.
» Der Kopf den Mönchs wurde hin und her gebeutelt. Schon für mich, der zusehen mußte, war es nicht zu ertragen. Der Boß wiederholte seine Fragen, doch der Mönch schwieg weiterhin. Sie drehten den Strom noch stärker. Speichelfloß aus dem Mund des Häftlings. Irgendwann mischte sich Blut in den Speichel. Ich spürte, wie ich zu beten begann. Ich betete, daß der Mönch sterben möge. Aber er starb nicht. Auch nicht das nächste und das übernächste Mal.
O mein Gott, er war so zäh … «
SUJA
Der Alte wird ohnmächtig, und der
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