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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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hinaus und schmeißt es mit voller Wucht zu Boden. Dann tritt er es. Mit seinen Stiefeln, den spitzen. Überallhin. Er hat die Schuhe nicht mal ausgezogen, als er ins Bett zur Mutter kroch.
    Little Pema hält den Atem an, kein Laut kommt über ihre Lippen. Das macht den Tobenden noch wütender. Er springt hoch, und Little Pema wälzt sich im Reflex zur Seite unter das Bett. Nicht schnell genug, die Beine bleiben draußen. Mit seinem ganzen Gewicht läßt sich der Vater auf das Kind fallen. Ein Knacken … Ein unglaublicher Schmerz im linken Bein. Dann wird es schwarz um Little Pema. Sie ringt nach Atem. Hört den kleinen Bruder ins Freie stürmen, nach der Mutter schreien und nach dem Alten. Ihr ist schlecht. Sie denkt, daß sie sterben wird.
    Der Vater wischt sich den Schweiß von der Stirn, richtet die Hose. Will sich erschöpft auf den Stuhl fallen lassen. Da kommt der Großvater, die rostige Flinte in der altersschwachen Hand. Vor vierzig Jahren war es ihm nicht gelungen, die Chinesen aus seinem Land zu vertreiben. Jetzt soll wenigstens der Schwiegersohn dran glauben, der Hund, der elende, und für immer aus ihrem Leben verschwinden. Der Großvater schießt, die Mutter schreit, der kleine Bruder hält sich die Augen zu, die Kugel verfehlt ihr Ziel nur knapp, und der Vater rennt um sein Leben. Mit offenem Hemd und wehenden Haaren, stolpert über seine spitzen Stiefel, fängt sich wieder, rennt und verschwindet hinter den Hügeln. Für immer.

Tamding und die Schafe
    Den ganzen Tag über war Tamding zusammen mit seinen Brüdern auf den Weiden unterwegs gewesen, um Yakfladen zu sammeln, die in der Mittagssonne zu Brennmaterial getrocknet waren. Tamding liebt diese weiten Tage nach Losar, an denen die Zeit keine Beine hat, um vor ihm davonzulaufen. Immer wenn sie Pause machten, holte Tamding seinen kleinen Zeichenblock aus der Tasche. Und während die älteren Brüder über die hübschen Mädchen ihres Dorfes Witze rissen, zeichnete er alles, was sich aus seinem stumpfen Bleistift herausholen ließ: die Berge, hinter denen strahlend die Sonne steht, und den Bach, der zwischen ihren Tälern entspringt; die Gebetsfahnen, die über seine tanzenden Wellen flattern; die lachenden Fische im Kokonor-See und die Kinder, die an seinem Ufer ihre Drachen steigen lassen; das Haus seiner Eltern und die scharfen Hunde, die es bewachen; die großen Vögel, die über den Wäldern kreisen, und die Gebetszettel, die durch die Luft wirbeln; die Yaks mit ihrem langen Winterfell und ihrem Hirten, der unter einer krummen Fichte seine Flöte putzt; den Rauch, der aus dem dickbäuchigen Weihrauchbrenner steigt, und die Mutter, die sein Feuer mit duftendem Räucherwerk speist.
    In vielen Familien ist es üblich, eines der Kinder ins Kloster zu schicken. Jeder kleine Mönch, jede kleine Nonne ist ein Esser weniger in einem armen Haushalt. Außerdem bringt ein betendes Kind im Kloster nicht nur Segen für die Familie, sondern auch Glück für den kleinen Novizen, der sein Leben nun ganz der Lehre Buddhas widmen darf und sich nicht an den Mühen des weltlichen Lebens abarbeiten muß. Doch die Ausbildung im Kloster ist nicht mehr das, was sie früher einmal war, sagt der Vater. Und nach der Losar-Zeremonie im Kloster schimpfte er auf die korrupten Mönche, die sich mit den Chinesen arrangieren: »Man kann kein guter Mönch sein und gleichzeitig die Chinesen glücklich machen. Die wirklich guten Mönche sitzen entweder im Gefängnis, oder sie sind nach Indien zum Dalai Lama geflüchtet.«
    Tamding würde gerne ein Bild vom Dalai Lama zeichnen. Aber das ist strengstens verboten, seit die Chinesen das religiöse Oberhaupt der Tibeter zum Staatsfeind ernannt haben. Allein sein Foto gesehen zu haben gilt als Vergehen. Wahrscheinlich hat jede Familie im Ort irgendwo im Haus ein Bildchen von ihrem Gottkönig versteckt. Zu Losar holen sie es dann hervor und zeigen es ihren Kindern. Tamding findet, daß der Dalai Lama sehr nett aussieht auf dem kleinen Amulett, das Großmutter unter die Tischplatte geklebt hat. Nur seine Brillen sind uncool, finden die Brüder.
    »Er hat sich als Kind die Augen verdorben – vom vielen Lesen in der Nacht», erzählte Großmutter einmal und kicherte ihr zahnloses Lachen. Dann sieht ihre Haut immer aus wie zerknittertes Drachenpapier. Schon oft hat Tamding versucht, die vielen Linien ihres kleinen Gesichtes nachzuzeichnen, doch Großmutter hält nie still. Ständig ist sie in Bewegung – murmelt Gebete, kratzt sich am

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