Flucht über den Himalaya
Kopf, spuckt ins Feuer, verscheucht die Fliegen oder lacht über die dummen Streiche der Brüder.
»Tamding, was ist, du wirst noch anwachsen auf deinem Stein!« Sanft holt Mipam den jüngsten Bruder zurück aus seiner Gedankenreise. Das Wunderbare am Zeichnen ist, daß es dem Künstler einen Raum verschafft, ungestört seinen inneren Bildern nachzuhängen. Und keiner fragt unwirsch: Wovon träumst du? Denn statt nutzlos Löcher in die Luft zu starren, läßt der Künstler träumend seinen Stift über das Papier flitzen. Deshalb hat Tamding einen stillen Wunsch: Er möchte Maler werden.
Die Kälte des Abends kommt langsam durch das Weidegras geschlichen, und es ist höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Da die Suppe auch heute nicht dick sein wird, ist keine Eile geboten, finden die Brüder. Als sie endlich den Hügel erreichen, von dem aus der Blick auf das elterliche Haus am schönsten ist, mischt sich der bläuliche Rauch aus dem Schonstein in die Abenddämmerung, und die Tiere stehen bereits im Pferch.
Tamding hält inne. Irgend etwas stimmt heute nicht. Das Blöken der Schafe. Es ist so dünn. Er spurtet zum Pferch, der die kleine Herde der Familie zusammenhält. Der Zaun ist dicht – und doch fehlen … sechs Schafe!
»Jemand hat unsere Schafe gestohlen!« Tamding stürzt in das Zelt, wo Großmutter den spröden Nudelteig walkt und Paala roten Chili stampft.
Niemand blickt erschrocken auf. Nur die Mutter blickt verlegen weg.
»Ich habe sie verkauft«, sagt der Vater und wischt sich eine Chili-Träne aus den Augen.
Tamding spürt wieder dieses seltsame Prickeln unter seinem Haarschopf. Es gibt nicht viele Gründe für einen tibetischen Bauern, seine Schafe zu verkaufen. Ist er reich, schafft er sich eine Solaranlage oder einen Fernseher an. Ist er arm, braucht er das Geld, um einen Flüchtlingsguide zu bezahlen.
An diesem Abend redet keiner beim Essen. Zu bedrohlich steht diese eine Frage zwischen ihnen: Welcher von den drei Söhnen wird gehen?
Plötzlich haut der Großvater auf den Tisch und brüllt den Vater an: »Jedes Kind, das nach Indien geschickt wird, hinterläßt nichts als ein Stück leeren Raum! Das ist meine Meinung, aber die ist ja längst nicht mehr gefragt hier in diesem Haus!« Damit steht er auf und verläßt wütend das Haus. Großmutter beginnt zu weinen, und Mutter schlägt die Decken auseinander: Es ist Zeit, schlafen zu gehen.
Spät in der Nacht schlüpft Tamding zu seinem Vater ins Bett: »Schick mich weg, Paala. Mipam ist Großmutters Herzblatt, und Dorjee hat sich gerade frisch verliebt.«
Der Vater drückt den Kleinsten an sich, und seine Tränen sind heiß wie purpurner Chili.
»Außerdem – ich möchte so gerne tibetische Malerei studieren, Paala … in Indien … beim Dalai Lama.«
Als der Vater nicht aufhört zu weinen, ist es Tamding, der ihn trösten muß: »Ich werde dein Gesicht in mein Büchlein malen«, flüstert er, »damit ich dich nie vergesse und euch später einmal wiederfinde, wenn ich groß bin und nach Tibet zurückkehre.«
Dharamsala, im Herbst 1999
Ich habe ein kleines Problem: Ich muß irgendwo im Himalaya eine tibetische Flüchtlingsgruppe finden – mit möglichst vielen Kindern, denn das wärmt die Herzen der Zuschauer. Die ZDF-Redaktion 37° ist mein mutiger Auftraggeber für einen Film mit dem Arbeitstitel ›Flucht über den Himalaya‹.
Als erstes recherchiere ich, was es zu diesem Thema bereits gibt:
›Flucht aus Tibet‹ heißt eine Dokumentation von Yorkshire-TV, in der ein Filmteam auf einem fast sechstausend Meter hohen Grenzpaß einer tibetischen Flüchtlingsgruppe begegnet. Ein wirklich guter Film! Man erfährt viel über das Leid der Tibeter in ihrem besetzten Mutterland. Doch da sich in der Flüchtlingsgruppe nur ein Kind befindet, wird die ausweglose Situation, die viele Eltern veranlaßt, ihre Kinder durch die weiße Todeszone ins Exil zu schicken, nicht thematisiert.
Schließlich stoße ich auf die beeindruckenden Fotos eines Schweizer Fotografen, der bereits 1995 einen Vater und dessen kleine Tochter von Lhasa aus über den Himalaya bis nach Dharamsala begleitet hat. Der Nachname des Fotografen ist Bauer – davon gibt es sicher Hunderte in der Schweiz. Doch sein Vorname ist Manuel, und diese Kombination scheint in seinem Land einzigartig zu sein: Manuel Bauer. Er hat dieselben Initialien wie ich, denke ich mit klopfendem Herzen und wähle seine Nummer, die mir die freundliche Dame bei der Auslandsauskunft gegeben hat. Herr
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