Flucht über den Himalaya
Geschichte, und ich werde versuchen müssen, mir das Wachs während dieses Gespräches geräuschlos und in möglichst breiten Streifen von den Beinen zu reißen.
Daß der ZDF-Mann Genaueres über die tibetischen Kinder – wie dem Jungen auf dem Deckblatt – erfahren möchte, ist schon schlimm genug. Daß er auch Näheres von mir wissen will, eine Katastrophe. Schnell zähle ich die Paraderollen auf, die ich an diversen österreichischen und deutschen Provinzbühnen gespielt habe –, hoffend, daß ihn das Timbre meiner ausgebildeten Stimme beeindruckt und die gefürchtete Frage ausbleibt:
»Welche Dokumentationen haben Sie denn bisher gedreht?«
»Keine. Aber ich habe eine Geschichte zu erzählen. Und die fehlt den meisten Dokumentationen.«
»Haben Sie denn in irgendeiner Weise schon mal journalistisch gearbeitet?«
»Ich habe für den WDR mehrere Hörspiele geschrieben.«
»Politisch relevant?«
»Das erste handelt von einem König. Das zweite von einem Jungen aus Afghanistan.«
»Kinderhörspiele also.«
Ertappt. Ich höre den Redakteur in meinem Exposé rascheln: »Sie schreiben hier, Sie wollen einer Gruppe von tibetischen Flüchtlingen entgegengehen. Waren Sie denn schon mal in Tibet?«
»Nein. Aber ich bin trittsicher im Geröll und würde auch eine Nacht im Schneesturm überleben.«
Mit so was kann man im Flachland offenbar Eindruck schinden, denn am Ende unseres Gespräches habe ich eine Einladung nach Mainz auf den Lerchenberg – in die größte Fernsehanstalt Europas!
Für Jürgen ist sofort klar: »Du brauchst eine neue Brille, wenn du dahin fährst. Eine, die zumindest optisch einen seriösen Menschen aus dir macht. Und zieh bloß diesen tibetischen Fummel aus! Besitzt du einen Hosenanzug? Wenn nicht, gehen wir sofort einen kaufen.«
Ein paar Tage später saß ein flaschengrüner Anzug mit Hornbrille in Jürgens rotem VW Golf. Ich glaube, das war ich.
Little Pemas Unglück
Es ist noch früher Morgen, als der Vater plötzlich zur Tür hereinpoltert. Niemand hat das Moped kommen gehört. Auch der Hund, der sanfte, hat nicht angeschlagen. Wahrscheinlich kam Vater zu Fuß, hat das Moped unterwegs liegen gelassen, weil er zu betrunken war, es zu lenken. Oder ein Kumpel hat ihn aus der Stadt mitgenommen. Plötzlich steht er in der Hütte und fordert seinen Platz neben der Mutter ein. Die Kinder flüchten aus ihren Betten in die Küche. Der Alte verschwindet fluchend im Stall. Mit zittrigen Händen macht Little Pema Feuer. Gleich wird der Vater nach Tee rufen, wenn er mit Ama fertig ist.
Ihre Ama ist so schön. Warum gerade er?
»Als du geboren warst, hat dein Vater dich in warmem Kräuterwasser gebadet, und sein Gesicht strahlte vor Stolz. Mit Safran hat er dann das Zeichen der Weisheit auf deine Zunge gedrückt. Die ganze Nacht konnte er nicht schlafen vor Glück und Erleichterung«, hat Ama ihr einmal erzählt. Das zu wissen macht es manchmal leichter. Aber immer erst hinterher, wenn alles überstanden ist.
Jetzt hört sie Ama, die sich wehrt. Mit ihren Nägeln. Den Vater, der wild wird und grob. Jetzt stößt Ama ihn weg. Dumpf fällt der Vater zu Boden. Und Ama rennt weinend aus dem Haus. Die Kinder sitzen in der Falle.
»Tee! Verdammt noch mal, wo bleibt der Tee?«
Gut, daß das Wasser bereits kocht. Little Pema gießt den Tee auf – mit viel Milch und Zucker, das beruhigt – und geht vorsichtig ins Zimmer. Der kleine Bruder hat sich unterm Küchentisch versteckt. Halbnackt liegt der Vater auf dem Bett. Die Hose steht noch offen, auch das Hemd. Sein Atem riecht nach Schnaps und schlechten Liedern. Die Tasse mit dem heißen Tee in der Hand, nähert sich Little Pema dem Bett. Die Augen des Vaters sind geschlossen, im Halbschlaf hebt und senkt sich die nackte Brust. Ihre Knie zittern, und da passiert es – eine Ungeschicklichkeit, ein Versehen. Sie stolpert, und der heiße Tee ergießt sich über die Brust des Vaters, in der früher einmal ein gutes Herz geschlagen haben soll.
Der Vater schreit auf, greift tapsend nach dem Schmerz an der verbrannten Haut. Ein kurzer Moment der Genugtuung, den Little Pema eine Sekunde lang auskosten darf. In diesem kleinen Augenblick ist sie ganz groß. Doch dann beginnt ihr Kopf zu dröhnen. Sie steht starr und harrt dem Unheil, das gleich über sie hereinbrechen wird.
Schon packt der Vater zu und rüttelt sie. Little Pemas Arme werden schwach vor Angst. Längst hat sie aufgegeben, sich zu wehren. Der Vater hebt sein Kind hoch über den Kopf
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