Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
Vom Netzwerk:
du ein Heiliger bist. Aber wahrscheinlich bist du zu hübsch für die Erleuchtung. Wie läuft es denn so ohne Mönchsrobe? Hast du schon viele Mädchen unglücklich gemacht?«
    Zum Glück kommen die Momos und ersparen Lobsang eine schlagfertige Antwort.
    »Wie alt bist du?«
    »Fünfzehn.«
    »Und was treibt dich fort?«
    »Auf alle Fälle kein Mädchen«, sagt Lobsang und lächelt schelmisch.
    Suja zündet sich eine Zigarette an. Die Packung, die er auf den Tisch gelegt hat, trägt chinesische Schriftzeichen. »Wenn es kein Mädchen ist, was ist es dann?«
    Lobsang zerteilt andächtig die dampfenden Teigtaschen, die mit Yakfleisch, Kartoffeln und Gemüse gefüllt sind.
    »Los, raus damit!«
    Mit einer entschiedenen Geste, die den leichten Hauch einer Verstimmung erahnen läßt, legt Lobsang seine Gabel zur Seite. »Sie haben Prüfungen in unserem Kloster abgehalten.«
    »Die Chinesen?«
    »Ja. Tests, in denen wir …«
    »O.k., das reicht. Iß weiter.«
    Verdattert blickt Lobsang in das markante Gesicht dieses seltsamen Amdo-Typen.
    Mit ernster Miene beugt sich Suja zu Lobsang: »Und was ist, wenn ich dir jetzt sage, daß ich für die chinesische Geheimpolizei arbeite?«
    Trotz seiner warmen Jeans hat Lobsang das Gefühl, an seinem Stuhl festzufrieren.
    Dezent bläst Suja den Rauch seiner Zigarette an ihm vorbei. »Nein, keine Sorge, ich bin kein Grünmann in Zivil. Aber wenn ich es wäre, sähest du jetzt ziemlich alt aus. Was ich dir damit sagen will, ist folgendes: Da sind auch Kinder in der Gruppe. Und noch so ein paar junge Grashüpfer, die gerade mal ein paar Jahre älter sind als du. Solange wir nicht über der Grenze sind, geht deine Geschichte niemanden was an. Du kommst von nirgendwo, du gehst nach nirgendwo, du bist ein Mönch auf Pilgertour. Kapiert? Falls uns die Chinesen einsacken, ist es besser, wenn keiner vom anderen was weiß. Und jetzt iß endlich, damit wir gehen können – ich muß noch die anderen Jungs einsammeln. Morgen früh geht es los.«

Der Abschied
    Durch die eisige Kälte der Nacht fährt ein Lastwagen über die Landstraße in Richtung der Berge. Auf der Ladefläche versteckt, drängen sich siebzehn Menschen aneinander: Sechs junge Männer teilen sich eine Zigarette gegen die Angst, von der Polizei erwischt zu werden. Auch Dhamchoe macht einen Zug, obwohl sein Lebensweg ein anderer ist. Er wird wieder zurückkehren, während die anderen mit ihrer Heimat gebrochen haben. Wenn es eine Zukunft für sie gibt, dann nur jenseits des Himalaya.
    Instinktiv hat Lobsang die Nähe zu Suja gesucht. Diesen rätselhaften Amdo-Typen umgibt eine Aura, in der man sich beschützt fühlt. Suja mag den Jungen: Lobsang strahlt eine Unschuld aus, die ihn berührt.
    Little Pema hockt zwischen den Beinen ihrer burschikosen Mutter und schielt verstohlen zu den zwei ›Neuen‹ hinüber, die erst in Gyantse zu ihrer Gruppe gestoßen sind: Chime und Dolker versuchen in Amalas weichen Armen zu schlafen.
    Es war nicht geplant, daß die Frauen ihre Kinder noch so weit begleiten. Doch in Gyantse waren ihre besorgten Mutterherzen noch nicht bereit für den Abschied. Sie haben darum gebeten, diese letzten Stunden vor dem Aufbruch in die Berge noch bei ihren Kindern bleiben zu dürfen. Der Fahrer wird sie nach Lhasa zurückbringen, sobald die Gruppe zu Fuß weitermarschieren muß.
    Vielleicht ist es für eine Mutter leichter, ihre Kinder auf eigenen Beinen davongehen zu sehen, als den Rücklichtern eines Lastwagens hinterherzuwinken, die irgendwann hinter einer Kurve verschwinden.
    Jede Mutter, die ihr Kind nach Indien schickt, hofft, daß es nach seiner Ausbildung wieder in die Familie zurückkehren wird. Doch Nima, der Grenzgänger, weiß, daß von Hunderten Kindern nur eine Handvoll vom Heimweh zurückgetrieben wird. Alle anderen bleiben im Exil. Sie leiden nicht minder unter der Trennung von ihren Eltern, aber sie fürchten auch die Repressalien, die jedem Heimkehrer aus Dharamsala drohen: die ›Umschulung‹ in einem chinesischen Gefängnis. Nicht immer fällt es auf, wenn ein junger Abiturient nach Hause zurückkehrt – so wie es oft nicht registriert werden kann, wenn ein Kind das besetzte Land verläßt. Es ist ein Spiel mit dem Glück, und das Glück ist auch in Tibet launisch.
    Am Abend bevor sie aus Lhasa aufbrachen, ging Nima in den Tempel. Er betete nicht für sich, sondern für die Zukunft dieser Kinder. Er bat um Schutz für die gefährliche Reise und daß die Kinder im Exil die Chance bekommen,

Weitere Kostenlose Bücher