Flucht über den Himalaya
desto größer der Schutz.«
Als wir einige Tage später mit dem Aufstieg beginnen, stehen wir unter dem Schutz der Grünen Tara, der beliebtesten Schutzgöttin Tibets. Die grüne Körperfarbe steht für ihre heilende Kraft, die mit der Fürsorge einer Mutter für ihre Kinder verglichen wird. Die Grüne Tara wird uns vor den Schneelöwen, vor wilden Elefanten, Waldbränden, Schlangen, Räubern, dem Gefängnis, vor Wasserfluten und bösen Geistern beschützen. Gerne hätte ich mir statt der Waldbrände und der Elefanten Schutz vor Erfrierungen und Gletscherspalten erbeten, aber so profan darf man das angeblich nicht sehen. Im tieferen Sinne sind mit den Gefahren, die am Wegrand unseres Lebens lauern, die acht großen Untugenden gemeint, mit denen der Mensch eine leidvolle Wiedergeburt heraufbeschwört: die Löwen des Stolzes, die Elefanten der Verblendung, das Feuer des Zorns, die Schlange der Eifersucht, der Räuber der irrigen Ansichten, die Fesseln des Geizes, die Flut der Begierde und das Gespenst des Zweifels.
In drei verschiedenen Klöstern werden die Nonnen und Mönche eine dreitägige Tara-Puja für uns abhalten. Ob man so was von der Steuer absetzen kann? Es war ja nicht ganz einfach, meiner Produktionsfirma in Deutschland zu erklären, daß wir den Schutz der Grünen Göttin genauso dringend benötigen würden wie gute Sherpa.
Denn als wir unser gesamtes Gepäck auf meinem Bett zu einem hohen Berg aufgetürmt hatten, war klar, daß dieser nur mit Hilfe professioneller Träger zu bewältigen sein würde: das Kamera-Equipment, die schweren Kartons mit den Batterien, unsere Bergausrüstung, die Notfallklamotten für die Kids, der große Beutel mit den Medikamenten …
»Zwei Sherpa«, sagte Pema.
»Drei«, sagte ich. Noch fehlte der ganze Proviant.
Wir entschieden uns für zwei junge Sherpa und einen älteren namens Kelsang.
Sie glauben, daß wir auf einen Gipfel in der Nähe des Grenzpasses steigen werden.
Jetzt muß ich nach jeder Rast, die wir einlegen, um meinen Rucksack kämpfen, weil unsere Sherpa normalerweise japanische Touristen samt Klappstuhl und Tischchen auf die Gipfel schleppen. ›Coca-Cola-Trecks‹ werden die ausgelatschten Routen des nepalesischen Himalaya genannt. Die Wege sind breit, das Wetter ist vorbildlich, und an jeder Biegung erwartet den Wanderer ein kleines Restaurant, eine Teestube, ein Guesthouse oder ein Süßigkeitenkiosk. Wäre die Luft nicht so erfrischend herb, könnte man sich fast wie zu Hause in Köln fühlen. O.k., da sind auch noch diese Berge um uns herum, aber deren Schönheit interessiert mich heute nicht besonders. Mein ganzes Wesen hat sich nach innen verkrochen. Seit Tagen habe ich Angst, daß alles schiefgehen könnte.
»Let’s go to the mountains and have some fun!« hat Pema bei unserem Aufbruch gerufen: »Laß uns in die Berge gehen und etwas Spaß haben!«
Dieser Junge hat das Temperament eines jungen Fohlens. Stürmisch, überschäumend und voll Lebensenergie schmettert er sogar bei den steilsten Passagen unseres Aufstiegs seine Lieder gegen die hohen Felswände. Ihr Echo vertreibt die Schreckensbilder aus meinem Kopf – zumindest für eine kurze Weile.
»Wovon handeln deine Lieder?« frage ich Pema, als wir abends unsere Hände an dem stinkenden Gaskartuschenofen einer etwas abgewrackten Herberge wärmen.
»Liebeslieder aus Amdo.«
»Hast du eine Freundin?«
»Man muß nicht verliebt sein, um Liebeslieder zu singen.«
»Aber es singt sich leichter, wenn man es ist.«
»Ich habe ein Herz aus Stein. Und trotzdem bin ich ein guter Sänger.«
»Ein Herz aus Stein?«
»Ja, jemand, der keine Gefühle hat.«
Der Wirt bringt heiße Nudeln, deren Duft einen bescheidenen Hauch von Gemütlichkeit in unsere Stube zaubert.
»Ein versteinertes Herz hat jemand, der sein Schicksal nicht verkraftet«, sage ich.
»Kann sein«, sagt Pema kurz angebunden und beginnt, seine Nudeln zu schlürfen.
Ich wechsle das Thema: »Was machen wir mit unserem Gepäck, wenn wir ins Sperrgebiet kommen? Wir können unmöglich die Sherpa da durchjagen.«
»Ich weiß einen Ort, wo wir Grenznomaden aus Tibet treffen können.«
»Du meinst Drogpa-Männer?«
»Ja. Die Drogpa kommen mit beladenen Yaks hier rüber nach Nepal, verkaufen ihre Ware und gehen leer nach Tibet zurück. Sie könnten uns mit dem Krempel helfen.«
»Ich kenne diese Leute. Nicht alle von ihnen sind o.k. Manche arbeiten mit der chinesischen Grenzpolizei zusammen. Oder mit dem nepalesischen
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