Flucht über den Himalaya
Gürtel und bindet diesen um Little Pemas Taille: »Siehst du das Zeichen auf dem Amulett? Es ist das Symbol des unendlichen Knotens. Auch wenn wir getrennt voneinander leben werden – der unendliche Knoten wird uns für immer miteinander verbinden. Paß gut auf, daß du dieses Amulett nie verlierst! Es ist noch von meiner Mutter, die deine Großmutter war.«
Auf dem Ofen kocht bereits das Abendmahl. An diesem letzten Abend wird sie ihr großes Mädchen mit den Händen füttern, so wie sie es getan hat, als Little Pema noch zu klein war, um selbst zu essen. Sie setzt sich zu ihrem Kind aufs Bett und knetet Reis und Gemüse zu kleinen Häppchen. Little Pema öffnet den Mund und läßt zu, was der Mutter am Herzen liegt. Es tut gut, plötzlich wieder ganz klein zu sein. Zu klein für Messer und Gabel, zu klein für Worte. Zu klein, um zu begreifen, was hier geschieht. Zu klein für den großen Abschiedsschmerz. Die Mutter hat keine Eile, auch wenn die Zeit drängt. Sollte der Fahrer jetzt an die Tür klopfen, wird er warten müssen, bis sie das letzte Reiskorn auf dem Teller gefüttert hat.
Chime und Dolker – das Abschiedsessen
» Ich habe zu meiner Ama gesagt: ›Vielleicht wird Paala dich schlagen, wenn wir plötzlich nicht mehr da sind. ‹ Und meine Ama hat gesagt: › Das macht mir nichts. Es ist mir egal. Euer Glück ist das einzige, was mir wichtig ist. ‹ Da mußte ich sehr weinen.
DOLKER
Sie wollte nicht, daß dieser letzte Abend traurig wird. Deshalb hatte sie Verwandte eingeladen und gute Freunde, die wissen dürfen, wohin sie ihre beiden Mädchen schicken wird. Ihr Mann ist wieder in Xining – auf Geschäftsreise, wie er sagt. Er weiß nichts von der bevorstehenden Flucht seiner Kinder. Wenn er nach Hause kommt, werden seine Töchter auf dem Weg in eine bessere Zukunft sein.
Bei den betuchten Nachbarn hatte sie einen Kassettenrekorder geliehen für Chimes Musik aus Amerika. Dazu haben alle getanzt. Ja, sie haben sogar gelacht, ihre Mädchen!
Genauso wollte sie es haben. Dann fiel der Strom aus. Und im warmen Schein der Butterlampen haben sie die Lieder gesungen, die Chime und Dolker nie vergessen sollen. Als es schließlich für die Gäste Zeit wurde aufzubrechen, haben die Tanten und Onkel weiße Glücksschärpen, Süßigkeiten und viele gute Ratschläge aus ihren Taschen geholt.
Nun faltet sie die bunten Gebetsfahnen zusammen, die sie an ein langes Band genäht hat. In der Mitte jedes Fähnchens trägt ein Pferd den wunscherfüllenden Juwel auf seinem Rücken. »Ich habe die Windpferde von unserem alten Lama weihen lassen. Hängt sie auf, wenn ihr oben auf dem Grenzpaß seid«, sagt die Mutter zu Chime und Dolker. »Die gelbe steht für unsere Erde, die grüne für das Wasser, die rote für das Feuer, die weiße für die Wolken und die blaue für den Himmel.«
Sie wickelt die Fahnen in eine Glücksschleife, auf die sie ihren Namen, den Namen ihrer Mutter und den Namen der Mutter ihrer Mutter geschrieben hat. So stehen die Mädchen unter dem Schutz ganzer Generationen.
»Die Glücksschärpe werdet ihr zwischen zwei Fahnen knoten. Dann wird der Wind die Gebete auf den Fahnen in alle Welt und meine Gedanken für immer zu euch nach Indien tragen.«
Dann füllt sie das Wasser, das sie auf dem Herd gewärmt hat, in einen großen hölzernen Bottich. Sie möchte, daß ihre Mädchen dieses Haus sauber verlassen. Sie schäumt das Haar der Großen mit einem duftenden Schampoo. Sie hat es an jenem Tag gekauft, als ihr klar wurde, daß die Liebe zu ihren Kindern das härteste Opfer von ihr fordern würde.
»Ich schicke euch nicht weg, weil ich euch nicht bei mir haben will. Ich schicke euch weg, weil ich euch liebe«, würde sie ihnen gerne sagen. Aber sie hat Angst vor jedem Wort, das neue Tränen bringt.
Sie setzt die Kleine in den Bottich und zählt im warmen Wasser noch einmal ab, ob alles da ist: Alle Finger, alle Zehen – so wie damals, als Dolker gerade geboren war.
Dann hüllt sie ihre Töchter in ein großes Tuch, um sie ein letztes Mal ins Bett zu tragen. Vorsichtig führt sie den Kamm durch ihre nassen Haare und murmelt dabei leise das Abendgebet.
»Ama«, flüstert Chime, als Dolker endlich in ihren Armen eingeschlafen ist, »ich wünsche mir was.«
»Ja, mein Schatz?«
»Können wir morgen noch Paala anrufen?«
»Du möchtest dich von ihm verabschieden?«
»Nein. Ich möchte nur seine Stimme hören … Ist das schlimm?«
»Ist schon gut so.«
Dhondups letztes Kartenspiel
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