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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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Meine Eltern haben den Rucksack gepackt: zwanzig Tabletten gegen Verkühlung und zwei kleine Pakete Nudeln auf dem Boden des Rucksacks. Brot, getrocknetes Yakfleisch und Kekse. Ein Paar Socken und Schuhe für Indien – ich habe nämlich zwei Paar Schuhe! «
DHONDUP
    »Das ist das Bild des Dalai Lama«, sagt Dhondups Mutter und legt das kleine Medaillon, das an einem handgeknüpften roten Band baumelt, um den Hals ihres jüngsten Sohnes. Als sie so nah ist, daß er ihren warmen Atem spüren kann, will Dhondup nach der Mutter greifen. Sich festhalten, damit sie ihn nie wieder loslassen kann. Aber er traut sich nicht. Ist wie gelähmt. Die Mutter nimmt seine kleinen Hände in ihre und schaut ihm in die Augen. »Wir schicken dich weg, weil du es in Indien besser haben wirst als hier. Du wirst eine große Schule mit vielen verschiedenen Klassen besuchen! Du wirst schöne Aufsätze in unserer Sprache schreiben und in dicken Büchern tolle Geschichten lesen – über Könige und Erfinder. Du wirst wunderbare Bilder malen und unsere tibetischen Instrumente spielen. Du wirst neue Ballspiele lernen und vielleicht sogar Computer! Du wirst andere Sprachen studieren und wenn du groß bist in fremde Länder reisen: nach Amerika, nach Frankreich und England! Wenn du hierbleibst, wirst du nie aus unserem Dorf herauskommen. Jenseits des Himalaya kannst du alles werden, was du willst: ein Lehrer, ein Anwalt, vielleicht sogar ein Schauspieler! Du wirst sehen: Es ist gar nicht schlimm, wenn du einmal in Indien bist. Ich bin sicher, du wirst viel Spaß in Indien haben.« Die Mutter steht auf, weil ihr die Stimme versagt. Sie flüchtet in die Küche.
    »Wann kommt ihr mich besuchen, Paala?« fragt Dhondup.
    »Bald, mein Kleiner, bald«, sagt der Vater und holt die Spielkarten aus dem Schrank. Es soll alles so sein wie immer an diesem letzten Abend. Er legt das Päckchen auf den Tisch.
    »Wer hebt ab?«
    »Ich«, sagt Dhondup und greift nach den Karten.
    Mit dicker Wolle stopft Dhamchoe die Löcher in seinen Handschuhen. Er freut sich auf Indien. Er hat noch nicht viel von der Welt gesehen – außer Lhasa und dem kleinen Dorf, in dem sie leben. Er wird den Dalai Lama kennenlernen und eine seidene Glücksschärpe für seine Zieheltern segnen lassen, damit er ihnen die besten Wünsche des Gottkönigs mit nach Hause bringen kann. Er wird sich Dhondups neue Schule ansehen und das Kinderdorf, in dem der kleine Bruder leben wird. Er wird ihm erst Lebewohl sagen, wenn Dhondup so viele neue Freunde gefunden hat, daß ihm die Fremde zum Zuhause geworden ist. Dann wird er den ganzen weiten Weg wieder nach Tibet zurückgehen, um beim alten Amchi in die Lehre zu gehen. Was für ein Abenteuer!
    Unruhig schleicht Schimi Tata um die Rucksäcke herum, die nun fertig gepackt an der Türe stehen.
    Schmetterling, Schmetterling,
    wohin fliegst Du?
    Flieg hoch, flieg hoch!
    Flieg nieder, flieg nieder!
    Und lande auf den Blumen.
    TIBETISCHER KINDERREIM
    Zum Glück redet der LKW-Fahrer kein Wort.
    »Sind Sie ein Freund von Nima?« hatte Little Pemas Mutter ihn gefragt, als sie neben ihm Platz nahmen und er den Wagen startete.
    »Hör zu«, sagte der Fahrer. »Ich kenne keinen Nima. Ich transportiere Zementsäcke in den Westen, und ihr seid Pilger auf dem Weg nach Lhasa. Alles klar?«
    Dann hat er die Musik aufgedreht. Stundenlang läuft immer wieder dieselbe Kassette: tibetische Popmusik, die krachend die Berge besingt, die Flüsse, Täler und Wälder – und das brüderliche Zusammenleben von Chinesen und Tibetern. Draußen ist es stockdunkel. Nichts ist zu sehen von der Schönheit des Landes. Doch hinter jeder Kurve könnte ein chinesischer ›Bruder‹ in einer grünen Uniform hocken, den Wagen anhalten und unangenehme Fragen stellen.
    Wir sind Pilger auf dem Weg nach Lhasa. Ein schöner Gedanke, den Little Pema schnell zu einem Traum verwebt: An Amas Hand wird sie in Lhasa dreimal den Jokhang-Tempel umkreisen, um schließlich das Innere des Heiligtums zu betreten. Wenn sie genügend Niederwerfungen gemacht, Gebete gesprochen, genügend Opfer gebracht und Gebetsmühlen gedreht haben, werden sie anschließend in einem der vielen kleinen Läden des Tempelbezirks neue Türkise für Großvaters Dolch kaufen – und ein Spielzeugauto für Tashi! Danach kehren sie in einer Teestube ein, lassen sich dampfende Momos servieren und gehen anschließend ins Kino. In den großen Kaufhäusern nahe des Potala darf sie dreimal mit der Rolltreppe fahren – rauf und runter.

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