Flucht über den Himalaya
genau das zu lernen, was ihrer Begabung und ihrem Wesen entspricht. So würden sie später einmal etwas Gutes für Tibet tun können. Er selber hatte nie etwas Richtiges gelernt, außer Yaks und Schafe zu hüten. Aber das, was er hier tut, scheint ihm sinnvoller, als zu Hause den Tieren hinterherzulaufen. Noch nie hat er ein Kind im Schnee verloren. Noch nie hatte einer seiner Schützlinge erfrorene Finger oder einen erfrorenen Fuß. Noch nie mußte jemand, der unter seinem Schutz stand, sterben. Den Frommen beschützen die Götter, heißt es.
Doch heute hat er zum ersten Mal Angst. Es geht ihm nicht gut. Seit gestern abend spürt er diesen stechenden Schmerz in den Lenden. Der Amchi, den er in Lhasa noch aufsuchte, hat ihm strenge Bettruhe verordnet. Aber es war zu spät, die Flucht zu verschieben. Pema und Sotsi sind bereits unterwegs. In acht Tagen muß er mit seiner Gruppe an der Grenze sein.
Nima lugt durch das Plastikverdeck des Lastwagens ins Freie. Die Nacht ist sternenklar. Satt und voll steht der Mond am Himmel. Der Zeitpunkt ihres Aufbruchs war klug gewählt, denn in den ersten zwei Nächten ihres Marsches wäre es zu gefährlich, Taschenlampen zu verwenden. Die Checkpoints liegen noch vor ihnen, und die Ortschaften sind nah.
Am Horizont zeichnen sich die Konturen einer großen Klosterruine ab. Bald haben sie ihr erstes Ziel erreicht. Nima fürchtet sich vor den Tränen der Kinder, die nun Abschied nehmen müssen. Er hätte diesen Moment gerne in Gyantse hinter sich gelassen, denn es schmerzt ihn jedesmal aufs neue. Aber die Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern bettelnder Straßenkinder tut auf Dauer noch mehr weh. Tränen der Trennung können überwunden werden. An einem Leben ohne Zukunft geht man langsam zugrunde. Deshalb nimmt Nima für Kinder kein Geld. Und von Erwachsenen gerade so viel, wie er haben muß, um selber zu überleben. Lobsang hatte nur ein schüchternes Lächeln. Aber es ist ein gutes Omen, einen Mönch in der Gruppe zu haben.
Der Lastwagen verlangsamt sein Tempo. Die fragenden Blicke der Mütter beantwortet Nima mit einem kurzen Nicken: Ja. Es ist soweit.
Kurz darauf öffnet der Fahrer das Verdeck, und die Flüchtlinge klettern ins Freie. Die Kinder reiben sich ihre müden Augen wach.
Dhamchoe flucht. Wo ist der zweite Rucksack geblieben? Der seines kleinen Bruders ist da. Doch sein eigener fehlt. Offenbar hat er ihn in Gyantse vergessen! Seine Ratlosigkeit geht in der allgemeinen Hektik unter.
»Paß gut auf deine kleine Schwester auf und tröste sie, wenn sie dich braucht«, flüstert die Mutter ihrer älteren Tochter Chime zu, »achte drauf, daß sie nichts Schlechtes lernt, und hilf ihr, ein guter Mensch zu werden. Versprichst du mir das?«
»Ja«, sagt Chime und schluckt tapfer ihre Tränen. Sie darf nicht weinen. Nicht jetzt. Es würde alles nur noch schlimmer für ihre Ama machen. Daß es schwieriger ist zurückzubleiben, ahnt sie bereits. Dolker weint. Sie braucht noch die tröstenden Worte der Mutter: »Ich werde dich besuchen, ganz bestimmt. Im nächsten Jahr zu Losar werde ich euch beide besuchen.«
»Ich werde dich besuchen«, verspricht auch Little Pemas Mutter ihrem Kind, »sobald Tashi groß genug ist, daß ich ihn alleine bei Großvater lassen kann.«
»Und Paala?« fragt die Kleine.
Die Mutter stockt, und Little Pema plappert weiter: »Paala wird böse sein, weil ich ihm nicht Lebewohl gesagt habe.«
»Vergiß ihn, er wird dir nie mehr weh tun können.«
»Ich möchte nicht nach Indien. Ich möchte zu Paala.«
»Du kannst nicht zu Paala, er hat uns verlassen!«
»Ich möchte zu Paala!« schreit Little Pema plötzlich, reißt sich von der Mutter los und schmeißt sich mitten auf die Straße. Nima spürt die Überforderung der Mutter. Er packt die Kleine und hebt sie auf seinen Arm: »Du wirst deinen Paala wiedersehen, aber jetzt müssen wir ganz schnell gehen, sonst kommen wir zu spät zum Dalai Lama. Der Dalai Lama wartet doch schon auf dich. Er ist ganz neugierig, dich kennenzulernen!«
In ihrer Überraschung hält Little Pema still.
Nima wirft der Mutter einen Blick zu: Jetzt. Schnell.
Die Mutter legt ihre Hände um das Gesicht der Kleinen. Hält es für einen kurzen Moment fest. Küßt ihr Mädchen auf die Stirn: »Bis bald. Ich liebe dich. Für immer.«
Schnell trägt Nima die Kleine davon. Er hört nicht auf zu sprechen: »Du bist doch ein ganz tapferes Khampa-Mädchen, hab’ ich gehört? Das einzige Khampa-Mädchen in der Gruppe. Was meinst du,
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