Flucht über den Himalaya
befolgte den Rat des Orakels nicht. Ich fürchtete mich davor, einer Fernsehanstalt wie dem ZDF von dieser Prophezeiung zu erzählen. Ich hatte Angst, als Eso-Freak abgestempelt zu werden und mein Projekt zu verlieren. Ich war ein Anfänger, ein Nobody. Ich konnte nicht erwarten, daß wegen eines tibetischen Orakelspruchs die Budgets umgeschichtet und der Sendeplatz verschoben wird. Außerdem war mein Kameramann bereits auf dem Weg nach Indien. Zusammen reisten wir nach Lhasa, wo wir planmäßig Anfang Februar mit einer Flüchtlingsgruppe in Richtung Westen starten sollten. Zwei Tage vor dem geplanten Aufbruch ging plötzlich unsere Kamera kaputt. Erst dachten wir, es läge an der Kälte, doch mein Kameramann hatte sie mehrmals in deutschen Kühlhäusern getestet.
Vielleicht war es ja der Strom, der sich in weiten Teilen Tibets wie ein treuloser Liebhaber verhält: Er kommt und geht und kommt und geht, wann immer er will. Kann sein, daß unser empfindliches Gerät diese Wankelmütigkeit nicht überlebt hat, als es zum Laden am Stromnetz hing. Die Filmfirma schickte eine neue Kamera nach Peking, die mein Kameramann sofort abholen sollte. Ich wartete in Lhasa, während die Flüchtlingsgruppe in Richtung der Berge aufbrach – zu Fuß. Ich nutzte die Zeit, um meinen schlimmen Husten mit Atemübungen und heißem Wasser in den Griff zu bekommen. Ich hatte kein Geld mehr für Medikamente und Tees.
Als mein Kameramann mit der neuen Kamera nach Lhasa zurückkam, war er nicht nur aus der Akklimatisierung raus, sondern hatte auch noch einen chinesischen Aufpasser an seiner Seite. Sein ungewöhnlicher Abstecher nach Peking war den Behörden offenbar aufgefallen. In einer Nacht-und- Nebel-Aktion übernahm ich das ganze Film-Equipment, um den Aufstieg alleine zu filmen. So schnell wie möglich verließ mein Kameramann Tibet. Er wollte mir von der nepalesischen Seite des Himalaya her entgegenkommen.
Doch ich erreichte meine Flüchtlingsgruppe nie. Auf dem Weg in die Berge geriet ich in eine Polizeipatrouille. Als Touristin befand ich mich bereits auf verbotenem Boden. Man nahm mich mit auf die nächste Polizeistation, und mein Equipment warf viele Fragen auf.
»Wie lange haben sie dich festgehalten?« fragt Pema.
»Zwei Tage.«
»Und was hast du denen erzählt?«
»Alles mögliche. Ich bin gelernte Schauspielerin, und der Polizeiboß war zum Glück betrunken.«
»Und dann?«
»Haben sie mich zur Grenze gebracht – und tschüs. Zurück in Kathmandu, ruhte ich mich ein paar Tage aus. Meine Filmfirma wollte mich so schnell wie möglich wieder in Deutschland haben, doch ich konnte nicht. Ein Jahr lang hatte ich mich auf einen sechstausend Meter hohen Paß vorbereitet, bei jedem Waldlauf bin ich ihn geistig Schritt für Schritt hochgegangen. Mir war nach einem Berg zumute und nicht nach der Kölner Bucht. Außerdem trieb mich die Hoffnung, doch noch meiner Flüchtlingsgruppe zu begegnen, zurück in den Himalaya.
Von der nepalesischen Seite aus begann ich mit dem Aufstieg. Alleine.
Nach drei Tagen traf ich drei Drogpa-Männer, die auf dem Weg zurück nach Tibet waren, und schloß mich ihnen an. Gemeinsam stiegen wir genau auf diesen Paß. Die drei Drogpa waren Brüder. Sie wollten mich heiraten, alle drei, und es wäre absolut kein Problem für sie gewesen. Sie waren nett, und der jüngste von ihnen sah richtig gut aus …«
Der Gletscherfluß
Wenn die Mutter ihre Töchter weckte, brachte sie immer eine Schale mit warmem Tee an ihr Bett: »Aufwachen, der neue Morgen wartet schon auf euch!«
Ama machte es ihnen so leicht, in die Kälte eines finsteren Morgens zu schlüpfen. Es war, als freute sich der Tag auf alle seine Kinder.
»Aufwachen!« flüstert Chime zu Dolker. »Wir müssen weiter. Die Nacht wartet schon auf uns.«
Dolker vergräbt ihren Kopf in den Decken. Sie möchte lieber liegenbleiben und warten, ob Ama vielleicht doch noch mit einer Schale Tee kommt.
Dhondup rüttelt Little Pema, die auch nicht richtig wach werden will: »Deine mongolische Glückskappe ist toll! Siehst du, es ist nichts passiert, alles ganz trocken!«
Er hat beschlossen, nun selbst ein ›großer Bruder‹ zu sein. Er hilft Little Pema aus dem Schlafsack und schnürt ihr sogar die Schuhe zu. Ganz fest, damit sie nicht wieder über ihre offenen Schuhriemen stolpert, wie gestern. Sie merkt es einfach nicht, wenn ihre Jacke offensteht oder der verrutschte Schal am Boden schleift. Nach jeder Rast läßt sie die Fäustlinge liegen. Und
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