Flucht über den Himalaya
manchmal vergißt sie sogar, nach dem Pipimachen ihre Hose richtig zuzumachen!
»Könntet ihr heute nacht die Decken übernehmen? Mir tut der Rücken weh von meinem Sturz«, bittet Lobsang seine Kameraden Currasco und Tempa.
»Laß es uns so machen: Du trägst die Decken auf dem ersten Teil der Strecke, und wir lösen dich dann ab.« Schon hat Currasco die Decken auf Lobsangs Rucksack geschnürt, und Tempa hilft ihm bereitwillig, das schwere Bündel zu schultern. Hilfesuchend schaut sich Lobsang nach Suja um. Doch der ist damit beschäftigt, Dolker einen warmen Schal vor Mund und Nase zu binden. Nima murmelt etwas abseits ein Gebet, damit die Götter sie heute nacht beschützen. Sparsam streut er eine Prise Tsampa in alle vier Himmelsrichtungen. Yeti, Goldzahn und der Student sind damit beschäftigt, die Spuren ihres Lagerfeuers zu beseitigen.
Im guten Licht des Mondes, dem heute schon ein Scheibchen fehlt, führt der Guide seine Gruppe aus der Hochebene hinaus in die Berge. Noch bewegen sie sich durch die Ausläufer des Himalaya, doch der Weg wird steiler und immer enger. Jetzt spüren die Flüchtlinge, daß die Luft zum Atmen langsam dünner wird. Vor allem Lobsang unter seiner schweren Last. Currasco und Tempa haben sich an die Spitze der Gruppe gedrängt. Wahrscheinlich mit Absicht. Denn nun ist es ihm kaum mehr möglich, sich mit dem riesigen Rucksack an den anderen Flüchtlingen vorbeizuzwängen, um diesen beiden Halunken die schweren Decken vor die Füße zu werfen. Der junge Mönch ist auch zu schüchtern, um laut nach ihnen zu rufen. Es bleiben ihm also nur zwei Möglichkeiten: Entweder er schleppt sich mit letzter Kraft weiter, oder er stürzt sich aus Verzweiflung in die Tiefe. Die Option, einfach umzukehren, wie es Dhondups Bruder und dieser freche Lhasa-Boy getan haben, hat er nicht. Auf Lobsang wartet weder ein hübsches Mädchen in Lhasa noch eine sichere Ausbildung zum Amchi. Auf Lobsang wartet die Zelle. Aber nicht die seines Klosters, sondern die eines Gefängnisses.
Seine Mutter wollte nicht, daß er nach Indien geht. Bei seinem ersten Versuch zu fliehen, hat sie den großen Bruder hinterhergeschickt, um ihn nach Hause zu holen. »Es ist besser, sich mit den Chinesen zu arrangieren, als im Schnee zu sterben!« sagte sie und schalt den ›braven Lobsang‹ wegen seiner Unvernunft. Doch sie wußte, daß sie den Jungen nicht an ihr Haus festbinden konnte, und steckte einen großen Geldschein zwischen ihre Opferschalen.
Von dem Geld kaufte sich Lobsang einen warmen Anorak, nachdem er auf Zehenspitzen sein Elternhaus verlassen hatte, um sich noch einmal auf den Weg zu machen …
» Mit elf Jahren wurde ich Mönch. Damals lebten dreihundert Mönche in meinem Kloster. Doch seit dem Terror der chinesischen Delegationen sind siebzehn Mönche verhaftet worden und mehr als fünfzig nach Indien geflohen. Viele, die blieben, haben sich mit den Chinesen arrangiert, manche kooperieren sogar mit ihnen. Das Schlimmste ist, daß in der Gemeinschaft kein Vertrauen mehr herrscht. Mit niemandem kann man offen reden. Jeder könnte ein Verräter sein.
Manchmal bekamen wir Post aus Indien. Die Mönche, denen die Flucht zum Dalai Lama gelungen war, forderten uns in ihren Briefen auf, ihnen zu folgen. Ich traute mich nicht einmal, mit meinem Lehrer darüber zu sprechen. Aber ich wußte Bescheid, und langsam festigte sich mein Entschluß, nach Indien zu gehen.
Eines Tages kamen zwanzig chinesische Polizisten in unser Kloster. Sie durchsuchten jede einzelne Zelle. Bei einigen fanden sie Bilder des Dalai Lama. Auch bei mir. Aber ich war noch zu jung für ihre Schlagstöcke. Sie schlugen nur die erwachsenen Mönche.
Dann mußten sich alle Mönche im großen Hof des Klosters auf den kalten Boden setzen. Vier Funktionäre teilten Prüfungspapiere und Stifte aus. Es waren jene Tests, bei denen man die Antworten ankreuzen muß:
Was für einen Einfluß übt der Dalai Lama auf das tibetische Volk aus?
– einen sehr schlechten
– einen schlechten
– einen guten
Sechs von unseren Mönchen weigerten sich, diese Fragen zu beantworten. Sie wurden sofort festgenommen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hatte Angst vor dem Gefängnis, aber ich wollte auch nicht den Dalai Lama verleugnen. Also gab ich die Fragebögen unter dem Vorwand, weder lesen noch schreiben zu können, zurück. Die Funktionäre durchschauten mich, aber sie konnten nichts tun, denn ich war erst fünfzehn Jahre alt. Erst wenn man sechzehn ist,
Weitere Kostenlose Bücher