Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
Vom Netzwerk:
können sie einen mit ins Gefängnis nehmen. Sie drohten mir, im nächsten Jahr wiederzukommen. Unter diesem Druck konnte ich nicht länger in Tibet bleiben. «
LOBSANG
    Little Pema ist müde. So müde wie ein kleiner Vogel nach seinem ersten Versuch zu fliegen. So müde wie ein alter Opa, der genug vom Leben gesehen hat. So müde wie ein junges Schäfchen, das bei seiner Mutter kuscheln will. Hier ist es windig, eisig und düster. Wenn sie ihre Augen schließt, sitzt sie vor einem warmen Ofen und malt bunte Sonnen in ihr Schulheft. Sie hört, wie Großvater den Buttertee durch seine großen Zahnlücken schlürft und der kleine Bruder vor dem Haus mit Steinen nach den Vögeln wirft. Wenn sie ihre Augen schließt …
    »Pema!!!«
    Little Pema zuckt zusammen. Das war Sujas Stimme. »Paß gefälligst auf den Weg auf!«
    Links von ihr bietet eine nackte, kalte Felswand Halt. Rechts von ihr lauert ein schwarzer Abgrund auf Beute. Little Pema reißt sich zusammen und trottet in der Mitte des Weges weiter. Seit der letzten Rast weiß Suja, daß es ihrem Guide nicht gutgeht. Beim Pinkeln hörte er ihn weinen. Und als er wiederkam, zitterten seine Hände. Vor allem den Kleinen muß Suja jetzt seine doppelte Aufmerksamkeit schenken. Die Steigung hat zwar nachgelassen, doch je flacher der Weg, desto größer ist die Gefahr, beim Gehen einzuschlafen.
    Als der Pfad nach einiger Zeit eine Biegung macht, marschiert Dhondup einfach geradeaus weiter – und Little Pema ihm blindlings hinterher.
    »Dhondup! Halt! Stehenbleiben!« brüllt Suja gerade rechtzeitig, um die Katastrophe zu verhindern. Verwundert drehen sich die kleinen Schlafwandler nach ihm um.
    Suja packt die Kinder am Kragen und hält sie direkt über die Abrißkante der tiefen Schlucht. »Soll ich euch sagen, was passiert, wenn ihr da runterfallt? Dann liegt ihr dort unten, in tausend Stücken, wie Kleinholz! Paßt also gefälligst auf und konzentriert euch auf den Weg!«
    »Sei nicht so streng zu den Kindern«, versucht Goldzahn den aufgebrachten Suja zu beruhigen.
    »Dann kümmere du dich darum, daß sie nicht abstürzen! Ich will, daß sie heil nach Indien kommen, und wenn ich sie dahin prügeln muß!«
    »Ich werde aufpassen«, verspricht Dhondup schnell. Auch Little Pema nickt ängstlich.
    Doch es dauert nicht lange, bis Dhondup wie ein Betrunkener zu torkeln beginnt. Er weicht aus der Spur und nähert sich erneut dem Abgrund. Jetzt wird es Suja wirklich zu blöd. Was ist heute nacht bloß mit den Kindern los? Sachte packt er Dhondup am Ärmel und dreht ihn zu sich herum. Verschlafen öffnet der Kleine die Augen.
    Die Kinder brauchen dringend eine Rast, doch Nima ist dagegen: »Sobald wir uns setzen, wird uns der Wind das Fett von den Knochen ziehen!«
    »Dann müssen mir die anderen helfen, die Kinder wach zu halten. Hier kümmert sich jeder nur um seinen eigenen Mist!« schimpft Suja.
    »Wir werden dir helfen«, versprechen Yeti und der Student. Doch an ihren erschöpften Stimmen kann Suja schon ahnen, daß er alleine gegen die Übermüdung der Kinder wird kämpfen müssen.
    Als sie weitergehen, bleibt Lobsang samt Rucksack auf dem Boden hocken. Er ist moralisch und körperlich am Ende. Tempa und Currasco sind schon wieder hinter der nächsten Biegung verschwunden und haben ihn mit den Decken alleine gelassen. Da Suja aber keinen Nerv mehr hat für Diskussionen, bekommt der junge Mönch zum ersten Mal in seinem Leben einen kräftigen Tritt in den Hintern: »Auf mit dir! Du nimmst deinen Rucksack und hängst dich an mich dran! Los! Ich ziehe dich!«
    Vor Sujas Autorität gibt es kein Entrinnen. Gehorsam streckt Lobsang seine Hand aus, um sich hochhelfen zu lassen. Dann darf er seine müden Arme an den Rucksack dieses starken Mannes hängen.
    Wie eine kleine Herde Schafe treibt Suja die Kinder vor sich her: »Pema, Dhondup, nicht schlafen … Augen auf … Ein Schritt und noch ein Schritt und noch ein Schritt … Augen auf! … Augen auf, hab‘ ich gesagt, verflucht noch mal!«
    Für die eigene Erschöpfung bleibt keine Zeit.
    Vielleicht war ich deswegen vier Jahre bei der Armee, denkt Suja, um fünf tibetische Kinder ins Exil zu bringen.
    »Das ist das Gebiet der Gletscherflüsse«, sagt Nima, als sie bei Morgengrauen erneut vor einem großen Fluß stehen. Freilich ist er nicht so breit und tief wie der letzte, aber diesmal gibt es auch keine Brücke. Längst haben sie die Zivilisation hinter sich gelassen. Nima führt seine Leute auf einen Steinhügel, der

Weitere Kostenlose Bücher