Flucht über den Himalaya
muß.
»Die mußt du mit Wasser schlucken«, erkläre ich der Frau mit meinem knappen Tibetisch und jeder Menge Gebärden. Da die Sherpa mit den Tibetern ethnologisch verwandt sind, ist auch ihre Sprache sehr ähnlich. »Heute eine Tablette und morgen früh eine. Und dann mußt du zum Amchi gehen – Zahn raus!«
Die Frau schluckt meine Schmerztablette. Und während sie in einem steinernen Mörser Chili stampft, glätten sich nach und nach die schmerzverzerrten Züge in ihrem wettergegerbten Gesicht.
»Ich möchte euch etwas erzählen«, sage ich zu Pema und Sotsi, nachdem wir es uns in unserem tarngrünen ›Iglu‹ gemütlich gemacht haben. Aus dem Zelt der Drogpa dringt das Gegröle der betrunkenen Männer bis zu uns herüber. Sie singen, lachen, amüsieren sich. Morgen geht es für sie weiter – in eine gnadenlose Welt aus Eis und Schnee. Morgen früh werde auch ich wieder aufbrechen, um Richy und Jörg entgegenzugehen. Pema und Sotsi bleiben hier oben, um unser Gepäck und das Equipment zu hüten. Sherpa Kelsang ist bereits nach unserem Abendessen in der Sherpa- Hütte wieder aufgebrochen. Er wohnt in der Nähe des Flugplatzes, auf dem ›meine‹ beiden Männer in zwei Tagen landen werden. Er soll sie abholen und seiner Familie Bescheid sagen, daß er für längere Zeit in den Bergen bleiben wird. Ich möchte diese eine Nacht noch hier verbringen, um meinen Körper an die Höhe zu gewöhnen. Und ich muß noch etwas loswerden – auch wenn Pema und Sotsi angeheitert sind.
»Ich hätte es euch eigentlich schon längst erzählen sollen«, sage ich zu Pema und bitte ihn, meine Worte für Sotsi zu übersetzen.
»Das hier ist nicht das erste Mal, daß ich versuche, diesen Film zu machen.«
»Ich habe mir schon so was gedacht, du kennst dich zu gut aus in dieser Gegend.«
»Ja, ich war hier schon mal. Genau auf diesem Paß. Aber erst, nachdem in Tibet alles schiefgegangen war.«
»Du warst in Tibet?«
»Vor zwei Monaten. Anfang Februar. Ich wollte den ganzen Weg einer Flüchtlingsgruppe begleiten. Von Anfang an. Ich dachte, ohne den Aufstieg kann ich den Leuten in Deutschland nicht klarmachen, was sich da oben im Himalaya abspielt. Verstehst du?«
»Sure.«
»Aber dann bin ich verhaftet worden.«
»Du bist in Tibet verhaftet worden?!« Pema fährt aus seinem Schlafsack hoch. Mit einem Mal ist er wieder hellwach.
»Es war nicht schlimm, Pema. Wirklich nicht. Sie wußten nicht genau, was sie mit mir anfangen sollen. Sie hatten mich in einer Sperrzone erwischt, und da war das ganze Kamera-Equipment in meinem Gepäck …«
»Und die Flüchtlinge? Wo waren die?«
»Die waren schon weiter – in den Bergen. Aber besser, ich erzähle alles von Anfang an …«
Die Geschichte, die ich Pema erzähle, beunruhigt mich immer noch. Auch, weil sie Schritt für Schritt vorhergesehen worden war – von einem tibetischen Orakel. Bevor ein Tibeter eine gefährliche Reise antritt, holt er sich gerne göttlichen Rat für den richtigen Zeitpunkt des Aufbruchs ein. Ist er arm, sucht er einen hellsichtigen Lama auf oder eine weltliche Person, der die Fähigkeit nachgesagt wird, in die Zukunft sehen zu können. Ist er etwas wohlhabender, konsultiert er ein Orakel. Ein Orakel ist ein menschliches Medium, durch das sich eine Gottheit mitteilen kann.
Als der Dalai Lama 1959 von Tibet nach Indien floh, hatte auch er ein Orakel nach dem günstigsten Datum befragt. Das Orakel riet ihm zum siebzehnten März. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der damals fünfundzwanzigjährige Gottkönig in seinem Sommerpalast. Und der war umstellt von chinesischen Soldaten. Also würde der Fluchtweg direkt durch das Armeecamp der Besatzer führen. Es schien schier unmöglich, da unentdeckt hindurchzuschlüpfen. Doch als der Dalai Lama den Palast verließ, hob ein gewaltiger Sandsturm an, so daß man kaum noch seine Hand vor Augen sehen konnte. Es war der Sandsturm, der die Flucht des Dalai Lama ermöglichte.
Das Orakel, das ich vor meiner Abreise nach Tibet in Dharamsala befragte, war eine ältere Frau, die sich mit Hilfe ritueller Praktiken in einen tranceartigen Zustand versetzte, um der Orakelgöttin Zugang zu ihrem Körper zu verschaffen.
»Große Projekte brauchen Geduld«, sagte die Alte und riet mir dringend, das Jahr 2000 abzuwarten, um meinen Film zu machen. Im Winter 1999 würden sich mir unüberwindbare Hindernisse in den Weg stellen. Sie prophezeite mir Probleme mit der Kamera und schließlich mit der chinesischen Polizei.
Ich
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