Flucht über den Himalaya
in eine sanfte Mulde abfällt.
»Hier werdet ihr euer Lager aufschlagen. Suja und ich gehen zurück an den Fluß, um nach einer seichten Stelle Ausschau zu halten.«
Der Fluß zerteilt sich in viele kleine Seitenarme, die über eine weite Ebene hinweg durch das milde Morgenlicht plätschern.
»Ich habe von diesem Fluß gehört«, sagt Suja. »Viele Flüchtlinge sollen darin ertrunken sein.«
»Kannst du schwimmen?« fragt Nima.
»Nein.«
»Ich dachte, bei der Armee lernt man so was?«
»Ich habe gelernt, auf Menschen zu schießen.«
Vorsichtig gehen sie am Ufer entlang. Suja sucht mit seinen Augen die Umgebung nach unwillkommenen Beobachtern ab, während sich Nima auf das Wasser konzentriert.
»Im Winter ist der Fluß gefroren. Im Frühjahr führt er viel Wasser. Das ist auch ein Vorteil. Je tiefer der Fluß, desto unwahrscheinlicher, daß uns dahinter noch Chinesen abpassen werden. Die hängen ihren uniformierten Hintern sicher nicht ins kalte Schmelzwasser.«
»Wenn wir drüben sind, brauchen wir sofort ein Feuer zum Aufwärmen.«
»Nein. Die einzige Chance, die wir haben, ist, wieder in unsere Klamotten zu hüpfen und loszurennen. So lange, bis wir ins Schwitzen kommen.«
Nima wirft einen Stein in die Mitte des Flusses, um abzumessen, wie tief er an dieser Stelle ist.
»Laß uns hinter die nächste Biegung schauen.«
Als sie weitergehen, erhebt sich hinter den Bergen der glühende Ball der Sonne.
»Diese Stelle hier ist nicht übel«, sagt Nima, »es gibt zwar schmalere, aber das Wasser wird uns höchstens bis zur Brust reichen.«
Gemeinsam rollen die Männer einen großen Felsbrocken als Markierung heran, damit sie den Einstieg auch im Dunkeln wiederfinden.
»Hör zu, Suja«, sagt Nima, als sie auf dem Weg zurück zu ihrem Versteck sind. »Seit unserem Aufbruch aus Lhasa habe ich geschwollene Hoden. Ich weiß nicht, wie die Dinger auf das kalte Wasser reagieren werden. Ich wollte es dir nur sagen, damit du weißt, warum ich … ich werde den Fluß nur einmal überqueren können, am besten mit Chime auf dem Rücken.«
»Alles klar. Dann nehme ich den Fluß mit Dolker und Little Pema und hole mir hinterher noch den kleinen Spaßvogel rüber.«
Als sie zum Lagerplatz kommen, sind bereits alle eingeschlafen. Nur Lobsang hat auf sie gewartet. Er muß mit ihnen reden: Seit vier Nächten schleppt er nun die Decken seiner Kameraden. Er fühlt sich völlig entkräftet und hat Angst vor dem Fluß. Er möchte lieber wieder nach Hause gehen, als mit dem schweren Rucksack im tiefen Wasser zu sterben.
Nima und Suja sind bestürzt, weil sie die Notlage des jungen Mönchs nicht erkannt haben. Sobald es dunkel ist, werden sie sich seine skrupellosen Kameraden vorknöpfen.
Drei Zigaretten hat er noch. Das ist nicht viel für einen langen Tag. Suja hat beschlosen, Nima erst zu wecken, wenn es wieder dunkel ist. Wer krank ist, braucht Ruhe. Er wird heute ganz alleine Wache halten. Von seiner Zeit als Soldat ist Suja gewohnt, auf Schlaf zu verzichten.
Drei Zigaretten, um die Langeweile zu vertreiben und die Einsamkeit in seinem Leben.
Ab morgen hat er gar nichts mehr zum Rauchen.
Er zündet sich die erste Zigarette an, tut einen tiefen Zug und bläst den Rauch in Richtung eines großen Felsens. Seine gekrümmte Form erinnert Suja an den ›Buckligen‹. Unwillkürlich zieht er die Jacke fester zu. Der Bucklige war der Knecht seiner Tante, deren Blick so bitter war wie Galle. Vielleicht auch ihr Liebhaber, denn der Onkel war nur noch ein Schatten mit wirren Gedanken.
»Ihr habt vier Kinder und seid arm«, hatte die Tante zu seiner Mutter gesagt. »Wir haben kein einziges Kind und sind reich.«
Er war erst sieben, als er mit der Tante gehen mußte! Etwas jünger als Dhondup und kaum älter als die kleine Khampa-Prinzessin, die nun in Nimas Armen schlummert.
Zwei Tage dauerte die Reise in sein neues Zuhause. Und drei lange Jahre harrte er dort aus.
Er wurde mieser behandelt als das Vieh, das er täglich auf die Weide treiben mußte. Zu essen bekam er nur das schlechte Fleisch, in dem die Maden steckten, und ohne Nudeln war die Suppe dünn in seiner Schale.
Er war ein Kind und wollte im Sommer nach Käfern jagen, im Herbst mit dem Wind um die Wette laufen und im Winter über das Eis des gefrorenen Flusses rutschen.
Als ihm im Frühjahr zwei verliebte Schafe verlorengingen, rannte er vor den Schlägen des Buckligen davon. Die Schläge des Buckligen fürchtete er mehr, als zu sterben. Er lief zum Fluß, der
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