Flucht über den Himalaya
sich etwas verlegen an Suja wendet: »Tempa und Currasco schicken mich, weil wir – also wir bräuchten auch so ein Messer.«
»Du willst mein Messer?« Sujas Stimme pfeift scharf gegen den Wind. Von seiner kühnen Stirn gräbt sich eine mächtige Zornesfalte herab bis zu den kräftigen Brauen. »Dieses Messer ist nur für mich bestimmt – denn ich bin der Beschützer dieser Khampa-Prinzessin!«
Er wirft das Messer in die Luft, so daß es sich zweimal überschlägt, fängt es geschickt am Knauf, läßt es haarscharf an Lobsangs makellosem Gesicht vorbeisausen und stößt die scharfe Klinge schließlich tief in die gefrorene Erde hinein. Little Pema ist begeistert, Lobsang steht starr vor Schreck. Doch als ihm Suja mit einem breitem Lächeln das Messer überreicht, weiß er, daß dieser Amdo-Typ schwer in Ordnung ist. Etwas verrückt vielleicht, aber immerhin: Er hat das traurige Khampa-Mädchen zum Lachen gebracht.
An ihrem kleinen Lagerfeuer ist Little Pema zum ersten Mal gesprächig. Sie packt Amas getrocknete Aprikosen aus dem Proviantbeutel und teilt die Früchte großzügig mit den anderen Kindern. »Die habe ich selber von unseren Bäumen gepflückt.«
Jetzt schämt sich Dhondup, über das kleine Mädchen mit den Zahnlücken gelästert zu haben. Als einziger wagt er nicht zuzugreifen.
»Die ist für dich!« sagt Little Pema und legt ihm die größte Aprikose in den Schoß.
»Wenn du willst, erzähle ich dir vor dem Schlafengehen einen Witz«, meint Dhondup kleinlaut.
Nima verteilt robuste Plastikplanen an die Dreiergruppen. Sie sollen diese über ihre zusammengenähten Decken schlagen. Das Plastik weist Wind und Kälte ab. Außerdem speichert es die Körperwärme.
»Es war einmal ein Mann, der mußte dringend einen großen Haufen machen«, erzählt Dhondup, nachdem er sich zusammen mit Little Pema unter die Decke verkrochen hat, »er mußte so dringend, daß er einfach auf die Straße kackte.«
Little Pema lacht, und Dhondup flüstert weiter: »Der Haufen war wirklich riesengroß, und deshalb legte der Mann schnell seinen Hut darüber, damit niemand den Haufen sehen konnte.«
»Und dann ist er einfach weggegangen?«
»Nein! Der Hut war ein sehr teurer Hut aus Pelz, und der Mann hatte Angst, daß jemand den Hut stiehlt. Er blieb also den ganzen Tag neben dem Hut stehen. Da kam ein chinesischer Polizist und sagte: ›Was macht der Hut hier auf der Straße? Heb ihn sofort auf !‹
Der Bauer sagte: ›Das geht nicht. Unter dem Hut sitzt ein goldener Vogel. Wenn ich den Hut aufhebe, fliegt der Vogel davon.‹
Der Polizist wurde ganz neugierig: ›Ein goldener Vogel? Den will ich haben!‹
Er hatte aber Angst, daß ihm der goldene Vogel entwischt. Deshalb griff er ganz vorsichtig unter den Hut, packte schnell zu und griff voll in die Kacke des Bauern!«
»Uäh!« Little Pema kichert in ihre Glückskappe. Diesen Witz muß sie unbedingt Großvater erzählen!
»Ich werde die erste Wache schieben«, sagt Suja zu Nima. Er richtet einen gemütlichen Sitzplatz an der Felswand ein und zündet sich eine Zigarette an. Nima hockt sich zu ihm.
Suja reicht ihm seine Zigarette, doch der Guide lehnt dankend ab.
»Du kannst gut mit Kindern umgehen«, sagt Nima, »warst du Lehrer?«
»Nein.« Suja bläst den Rauch seiner Zigarette in die aufgehende Sonne. »Ich war Wujing.«
Nima schweigt. Eine ganze Weile. Schließlich greift er nach Sujas Zigarette. Er tut einen tiefen Zug, bläst langsam den Rauch in die Sonne, die noch ein Stückchen weiter aufgegangen ist. »Weck mich in vier Stunden«, sagt er.
Bevor er zu den Kindern unter die Decken schlüpft, dreht er sich noch einmal zu Suja um. »Ich danke dir, daß du mit uns gekommen bist, mein Freund«, sagt er.
Nepal, 9. April 2000
Mit jedem Schritt, den wir uns der tibetischen Grenze nähern, wächst Pemas Euphorie. Der coole Streetboy aus Dharamsala verwandelt sich Höhenmeter für Höhenmeter in den ungestümen Amdo-Boy zurück, der Tibet vor sieben Jahren verlassen hat. So wie das Fohlen zu seiner Mutter gehört, ist sein Platz in Tibet, denke ich still. Die Abgase und der Lärm Kathmandus, das subtropische Klima Südindiens, die Enge Dharamsalas – das alles ist nicht geschaffen für einen Menschen, der in die unendliche Weite des tibetischen Hochlandes hineingeboren wurde und seine Kindheit unter einem Himmel verbrachte, der zum Greifen nahe war.
Meine Oma hatte vor langer Zeit zu Ostern eine Rose von Jericho geschenkt bekommen. Sie sah aus wie ein
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