Flucht über den Himalaya
kleiner, unansehnlicher Knäuel aus Flechten und Wurzelwerk. Doch als meine Oma sie in ein Wasserbad legte, wurde sie grün und verwandelte sich in eine wunderschöne Pflanze. Pema ist wie die Rose von Jericho. Er braucht die klare Höhenluft, die schneebedeckten Berge, das weite Grasland und einen Horizont, der am Ende der Welt zu liegen scheint. Er braucht ein freies Tibet, so wie die Rose das Wasser. Er ist viel zu wild, zu kraftvoll, zu archaisch für das Exil. Wie eine Gemse läuft er über die steinigen Wege hinweg, als ob er den Geruch seiner Heimat schon schnuppern könnte. Wenn man ein Yak in die Enge eines subtropischen Tales treiben würde, ginge es elend zugrunde.
Hundertdreißigtausend Tibeter leben mittlerweile im Exil. Viele von ihnen verdursten seelisch an der Sehnsucht nach ihrer Heimat und den Familien, die sie zurückgelassen haben. Was für ein Luxus, einen Ausweis zu haben, der einen berechtigt, in jedes Land dieser Erde zu reisen!
Wir pokern mit dem Glück und wandern bei Tageslicht. So weit hinter dem nepalesischen Militärcheckpoint ist es unwahrscheinlich, Soldaten zu begegnen. Der Weg ist nur leicht ansteigend, die Landschaft weitläufig, die Stimmung heiter. Sotsi kennt eine Sherpa-Familie, die fernab der Siedlungen auf viertausendfünfhundert Metern Höhe Chang und Schnaps an verfrorene Grenzgänger verkauft. Meist sind es Drogpa, die in der letzten menschlichen Behausung vor der Schneegrenze einkehren und oft den mageren Gewinn, den sie in Nepal mit ihrem Ramsch erzielten, wieder versaufen.
Ich freue mich jedenfalls auf eine heiße Nudelsuppe und frage Sotsi nun schon zum wiederholten Male: »Wie weit ist es noch bis zum Chang?«
»Hinter der nächsten Bergkuppe«, deutet er mir. Wir haben aber seit heute morgen schon mindestens ein Dutzend Bergkuppen erledigt, und hinter jeder sollte uns die gemütliche Hütte des Sherpa erwarten.
Am Rande unseres Weges türmen sich plötzlich Mani- Steine zu einer langgezogenen Mauer. Ein Mani-Stein ist ein Stein oder ein Felsbrocken, in den ein Mantra hineingemeißelt ist. Oft sind die Buchstaben mit bunter Farbe ausgemalt. Mendongs – ganze Mauern aus Mani-Steinen kündigen meist heilige Stätten, Klöster oder Dörfer an. Yakfladen auf dem Pfad oder Mani-Steine am Rande des Weges, und es dauert nicht mehr lange, bis der einsame Wanderer endlich wieder einer menschlichen Seele begegnet.
Die Hütte des Sherpa ist verriegelt. Auf der kleinen Grasfläche davor döst auch kein einziges Yak in der Abendsonne. Was für eine Enttäuschung!
»Sie sind wahrscheinlich weiter oben in ihrem Sommerrevier«, meint Sotsi. Genau weiß er allerdings nicht, wo es liegt.
»Weiter upstairs«, schlage ich vor.
Etwa eine halbe Stunde später begegnen wir einem Mädchen, das seine Yaks zusammentreibt. Es ist die kleine Tochter des Sherpa. Als Kelsang sie anspricht, versteckt sie ihr Gesicht verschämt hinter dem schmutzigen Kragen ihrer Jacke, deutet in die Richtung ihres Heimes und läuft schnell mit den Tieren davon. Schließlich finden wir das schmucke Steinhäuschen gerade noch rechtzeitig vor der Abenddämmerung. Gemütlich schmiegt es sich in eine sanfte Mulde. In unmittelbarer Nähe rauscht ein Fluß, der sich aus einem engen Tal herunterschlängelt. »Das ist ein perfekter Platz für unser Basislager – versteckt, windgeschützt und jede Menge Wasser«, sage ich.
Pema deutet auf ein weißes Zelt hinter dem Häuschen: »Und die Drogpa mit unserem Gepäck haben es offenbar auch gefunden.«
»Woran erkennst du, daß es unsere Leute sind?«
»Am Schmuck, den ihre Yaks an den Hörnern tragen.«
Während Sotsi den Drogpa Bescheid sagt, erklimmen Pema, Kelsang und ich über eine knarrende Holztreppe das obere Stockwerk der Hütte. Im Erdgeschoß befinden sich Speicher und Stall der Familie. Als wir eintreten, kann ich zunächst kaum etwas sehen. Es gibt nur eine Lichtquelle: In der Mitte des Raumes befindet sich ein offener, runder Ofen, vor dem eine übelgelaunte Sherpa-Frau hockt. Sie hebt kaum den Kopf, als wir eintreten, und schmeißt mürrisch zwei getrocknete Yakfladen ins Feuer. Doch ihr Mann holt sofort einen Krug mit Chang aus dem Regal – und eine große Flasche Schnaps.
»Meine Frau hat Zahnschmerzen«, sagt er und verweist uns auf den besten Platz am Ofen. Erst jetzt bemerke ich, daß die linke Backe der Frau dick angeschwollen ist. Das ist ein Fall für unseren Medizinbeutel, auch wenn der eitrige Zahn auf lange Sicht gezogen werden
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