Flucht über den Himalaya
York angereist, Jörg aus Frankfurt. Die beiden Männer werden einander heute abend in Kathmandu zum ersten Mal sehen.
Was ist, wenn Jörg sein Flugzeug versäumt hat? Oder Richys Maschine wegen vereister Turbinen nicht starten konnte? Zwar unwahrscheinlich im April, aber möglich ist alles! Vielleicht hat Jörg eine schwere Grippe oder Richy einen entzündeten Blinddarm? Und was, wenn ihre kleine Propellermaschine wegen Nebels in Kathmandu hängenbleibt? Als waschechter Kölner wird Jörg morgen den ersten richtigen Berg seines Lebens sehen. Kann sein, daß er bereits beim bloßen Anblick höhenkrank wird. Auch Richy könnte Probleme bekommen. New York ist nicht unbedingt der ideale Ort für ein Höhentraining.
In spätestens fünf Tagen müssen wir alle samt unserem Equipment auf dem Paß oben sein. Unser Zeitplan ist so straff, daß er keine einzige Panne zuläßt.
Ich bin so von meinen trüben Gedanken beherrscht, daß ich die zwei Gestalten, die mir entgegenkommen, zu spät bemerke. Es hat keinen Sinn, sich zu verstecken, sie haben mich längst entdeckt. Mit zitternden Knien stakse ich weiter, als wäre es das Normalste von der Welt, in langen weißen Unterhosen durch das Sperrgebiet zu wandern. Es sind zwei nepalesische Bergsteiger. Es könnten aber auch Polizisten in professionellen Trekking-Klamotten sein. Sie fragen mich nach dem Sherpa, der Chang und Schnaps verkauft.
»Sorry, keine Ahnung«, sage ich und gehe schnell weiter. Plötzlich hasse ich diese schönen Berge um mich herum! Was soll ich mit der ganzen Pracht, wenn die beiden Nepalesen statt Karabinern Handschellen in ihren Rucksäcken haben? Ich stelle mir vor, wie Pema sich gegen seine Verhaftung wehrt, davonläuft, in Richtung des Flusses, und die Typen mit ihren Flinten auf ihn … Stop.
Längst habe ich keinen Durchblick mehr, ob das, was ich hier mache, richtig ist. Was treibt mich an, diesen Film zu machen? Ist er wirklich nötig für die Menschheit? Hilfreich für die Tibeter? Ist es meine Aufgabe, die Geschichte tibetischer Kinder zu erzählen? Oder ist das Ganze einfach nur ein gewaltiger Egotrip? Gerne würde ich jetzt die Augen schließen und in einem anderen Leben aufwachen. Aber das geht nicht. Ich muß mich auf den Weg konzentrieren, sonst lande ich noch in einem falschen Tal.
Am zweiten Tag meines Abstiegs regnet es, und die Berge sind grau verhangen. Dunkle Nebelschwaden treiben dramatisch an den bewaldeten Hängen entlang. Ich hätte mir einen freundlicheren Empfang für Richy und Jörg gewünscht. Wie mag das Wetter oben bei Pema und Sotsi sein? Und wie bei den Flüchtlingen? Hoffentlich schneit es auf der anderen Seite des Himalaya nicht!
Ich bewege mich wieder auf den markierten Wegen, die immer wieder von einladenden Bretterbuden gesäumt sind. Aus Angst, Kelsang samt Jörg und Richy zu verpassen, wage ich aber nirgendwo einzukehren. Auf etwa zweitausendfünfhundert Metern brauche ich dringend Schokolade für meine Nerven. Ich betrete eine schlichte Teestube und rufe nach dem Wirt. Niemand rührt sich in der Küche. Ängstlich laufe ich zum Fenster und luge zwischen den bunten Vorhängen ins Freie. Heute scheint niemand so richtig Lust auf eine Bergtour zu haben. Endlich kommt ein verschlafener Sherpa aus dem Hinterzimmer und schiebt mir mürrisch ein angestaubtes Snickers über die Ladentheke. Ich zahle einen horrenden Preis für meine Sucht und verabschiede mich hastig. Als ich vor die Tür trete, wandert gerade jemand in einem grauen Regenumhang vorbei. Die Kapuze hat der Mensch so tief in sein Gesicht gezogen, daß ich ihn nicht erkennen kann. Von der Größe her könnte es Richy sein.
»Richy?!« rufe ich dem grauen Kapuzenmännlein hinterher. Es dreht sich um.
Als er da in seinen kurzen Wanderhosen steht, wie ein fünfzehnjähriger Pfadfinder, die schwarzen Haare klatschnaß in der Stirn, weiß ich, daß er genau der richtige Kameramann für dieses Projekt ist.
»Super«, sagen wir beide gleichzeitig.
Jetzt biegen Kelsang und Jörg um die Kurve. Etwas befangen gehe ich meinem Freund entgegen. Was für ein Glück, daß man sich mit den klitschnassen Klamotten nicht richtig umarmen kann. Dieses wundervolle Wetter schenkt uns Zeit, einander langsam – Schritt für Schritt – wieder zu nähern.
»Wie läuft’s?« fragt Richy.
»Ich glaube, gut.«
Zum Glück habe ich Jörg in einem Fitneß-Studio kennengelernt. Für einen ›kölschen Jung‹ wandert er sehr zügig, und auch Richy ist gut dabei. Aber sachte.
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