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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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vom Schmelzwasser angeschwollen war, und sprang hinein. Er konnte nicht schwimmen, und seine nassen Kleider zogen ihn in die Tiefe. Doch der Bucklige war schneller als der Tod. Er fischte ihn aus dem Wasser und riß einen scharfen Ast von den Sträuchern. Dann schlug er ihn so lange, bis die Haut am Rücken und an den Beinen platzte. Als am nächsten Morgen der chinesische Transporter kam, um die frisch gemolkene Milch der Kühe zu holen, war der Fahrer schockiert über die blutigen Striemen und berührt von dem Hunger, der aus Sujas Augen schaute. Von nun an schenkte er Suja immer etwas zu essen und ein paar gute Worte, bevor er die Milch in die Stadt mitnahm. Und da Suja die Sprache der Besatzer verstand, waren die Worte des chinesischen Milchfahrers der erste wirkliche Trost in seinem Leben.
    Die erste Zigarette ist zu Ende. Die zweite liegt bereits in seinen Händen. Er betrachtet Dolker, die neben ihrer großen Schwester liegt. Wie hübsch die beiden Mädchen sind! Er hat ihrer Mutter versprochen, sie über den Paß zu bringen. Eine schöne Frau. Etwas zu pummelig für seinen Geschmack, aber warme Augen. Warme, traurige Augen.
    Er dreht und wendet die Zigarette. Er schnuppert kurz daran und steckt sie weg. Er holt sie wieder hervor und zündet sie an.
    An einem frühen Morgen, als die Tante und der Bucklige noch schliefen, hat er sich schließlich davongemacht. Er rannte und rannte – grob noch die Richtung im Sinn, aus der er vor drei Jahren gekommen war. Abends wagte er nirgendwo anzuklopfen, verbrachte die Nächte alleine unter den Sternen. Das Eis in den Bergen knackte gespenstisch, und das Geheul der Wölfe war ein gefährliches Schlummerlied. Er versteckte sich vor der Kälte in seinem kleinen Mantel aus Fell und wärmte sich an einem süßen Traum: Er kommt nach Hause, und vor dem Zelt sieht er seine Ama mit der Wollspindel in der Abendsonne sitzen. »Ama!« ruft er, und mit einem Aufschrei der Freude läßt Ama die Spindel fallen. Sie läuft, die Arme ausgebreitet, auf ihn zu: ›Ngi nying ni tsewi wu! – Mein liebes Kind! Wie hab’ ich dich vermißt!‹ Sie hebt ihn hoch und liebkost ihn mit den rauhen Wangen, die gerötet von den Tränen ihrer Freude sind …
    Als er nach zwei Tagen Fußmarsch endlich das Zelt seiner Eltern gefunden hatte, sah er die Mutter mit der Wollspindel in der Abendsonne sitzen.
    »Ama!« rief er, und mit einem Aufschrei des Entsetzens ließ die Mutter die Spindel fallen. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und lief weinend ins Zelt. Da stand er in den Scherben seiner süßen Träume. Der Schmerz in seiner Brust schlug Wurzeln, während die dicken Brüder ihn mit ihren spöttischen Blicken umkreisten.
    Am Abend füllte die Mutter den hölzernen Bottich mit heißem Wasser und schnitt das Kind mit einer großen Schere aus den Kleidern heraus, die in den drei Jahren an seinem Körper angewachsen waren. Der jüngere Bruder sah seine eitrigen Flohstiche an den Beinen und die verschorften Striemen auf dem Rücken und schrie: »Du siehst so häßlich aus ! Du bist nicht mein Bruder!«
    Die Mutter schalt den Kleinen mit einem zärtlichen Kniff in die Wange, der nur Suja schmerzte.
    Die zweite Zigarette ist zu Ende. Die dritte liegt bereits in seinen Händen.
    Hinter dem krummen Felsen taucht die Mittagssonne auf, und ihre Strahlen legen sich wärmend auf Sujas freie Stirn. Er sehnt sich nach der Liebe – ohne zu wissen, wie diese Liebe aussehen könnte. Er zündet seine letzte Zigarette an und steckt die leere Packung in die Hosentasche. Er wird sie nach Indien mitnehmen – als Erinnerung an sein altes Leben.
    »Leute, wir sind eine Gruppe, und wir alle wollen nach Indien. Wir schaffen das nur mit viel Power und wenn wir zusammenhalten. Wer meint, er kann sich auf Kosten eines anderen ausruhen, hat sich getäuscht. Ja, ich meine euch beide, ihr Arschgeigen! Wie kommt ihr auf die Idee, daß nur Lobsang die Decken tragen soll? Ihr habt Glück, daß ich meine Kräfte schonen muß, ich hätte euch sonst die Zähne aus dem Maul... ach, was soll’s. Laßt uns den Fluß so nehmen, wie Nima es mit euch besprochen hat. Und vergeßt nicht: Wir hängen einer vom anderen ab. Wir schaffen das Ding hier nur gemeinsam.«
    Sujas Worte tun ihre Wirkung. Bevor die Flüchtlige zum Fluß hinuntersteigen, entschuldigen sich Currasco und Tempa bei Lobsang für ihr egoistisches Verhalten. An dem großen Markierungsstein ziehen die Männer eilig ihre Kleider aus und verstauen sie mit klammen

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