Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
Vom Netzwerk:
Fingern in den Rucksäcken. Die Kinder müssen sich nur ihrer Schuhe und Hosen entledigen.
    Dann geht alles blitzschnell: Nima setzt Chime auf seine Schultern und steigt als erster in den Fluß. Zu gut kennt er den Schmerz, den kaltes Wasser dem Körper antun kann. Es ist ein Schock, der einem den Atem verschlägt. Es gibt nur ein Wort, das hilft: »Weiter.«
    Wütend schleudert es Nima gegen das Wasser, das mit aller Gewalt versucht, ihm den Grund unter den Füßen wegzuziehen. Weiter, weiter, weiter. Jedesmal wenn er diesen Fluß durchqueren muß, tut er es mit der Gewißheit, hier die Verfehlungen seines Lebens und die seiner Vorleben ›ausbaden‹ zu müssen. Und jedesmal wenn er das rettende Ufer erreicht hat, fühlt sich seine Seele ein wenig leichter an.
    Die Kälte des Eiswassers schlägt sich wie stumpfe Nägel in die Füße der Männer. Die Beine sind steif und bewegen sich unsicher durch die Wucht der Wellen. Sind die Steine spitz, auf die sie treten, schmerzen sie. Sind sie glatt, droht man auf ihnen auszurutschen. Ein falscher Schritt, und der gnadenlose Fluß verschlingt sein Opfer.
    Als letzter steigt Suja ins Wasser. Er trägt Dolker und Little Pema auf seinen Schultern. Dhondup bleibt ängstlich am Flußufer zurück.
    Weiter, weiter, weiter! Es ist das einzige Mantra, das sich hier noch denken läßt. Auch Goldzahn, Yeti und der Student murmeln es im Kampf mit der Natur. Weiter, weiter, weiter! Jedes Zaudern wäre tödlich.
    Nima hat es geschafft. Er wirft Chime über sich an Land und klettert wie betäubt ans Ufer, dicht gefolgt von Goldzahn. »Anziehen!« schreit der Guide zu Chime, die gelähmt vor Angst nach ihrer kleinen Schwester Ausschau hält.
    Mit einem Aufschrei der Erleichterung erreichen Yeti und der Student das Ufer.
    »Weiter, weiter, weiter!« rufen sie den anderen zu, die zurückgefallen sind.
    Suja geht es nicht schnell genug. Die Kälte wird langsam gefährlich für ihn. »Festhalten«, sagt er zu Dolker und Little Pema und zieht mit großen Schritten an Currasco, Lobsang und Tempa vorbei.
    ›Kampfmaschine‹ haben ihn die Kumpels bei der Armee genannt, nachdem er die drei Wujings im Speisesaal vermöbelt hatte. Ja. Wenn es darauf ankommt, kann er kämpfen wie ein Tier. Yeti und Goldzahn stehen am Ufer, strecken ihre Arme nach Dolker und Little Pema aus. Wortlos übergibt Suja ihnen die Mädchen, dreht sich um und kämpft wieder gegen den Fluß.
    Am anderen Ufer wartet Dhondup und weint vor Erleichterung: Suja hat ihn nicht vergessen. Barfuß, frierend, seine Schuhe und Hosen umklammernd, war er zurückgeblieben.
    »Gleich bin ich bei dir!« schreit Suja und arbeitet sich keuchend weiter. Er spürt die Kälte nicht mehr. Als er Dhondup erreicht hat, packt er den Jungen und drückt ihn fest an sich.
    »Ngi nying ni tsewi wu!!!« schluchzt er. »Mein liebes, liebes Kind!«
    Die letzte Durchquerung geschieht wie in Trance.
    »Suja, Suja, Suja!« feuern ihn die Kameraden am anderen Ufer an.
    »Dhondup!« schreit Little Pema und vergißt vor Aufregung, ihre Schuhe zu schnüren.
    Als Suja mit dem kleinen Jungen aus dem Fluß steigt, läßt er seine Vergangenheit als Wujing im Wasser zurück.
    Die Männer helfen den Kindern in die Kleider. Dann rennen sie um ihr Leben. Mit jedem Schritt wird wieder Blut in die tauben Beine gepumpt. Mit dem Leben kehrt auch der Schmerz in Nimas Lenden zurück. Er beißt die Zähne zusammen, um nicht aus Verzweiflung zu weinen.
    Nur er weiß, daß der anstrengendste Teil des Weges noch vor ihnen liegt.

Nepal, 10. April 2000
    Noch vor Sonnenaufgang bin ich aus unserem Basislager aufgebrochen, um Richy und Jörg entgegenzugehen. Es läuft sich herrlich leicht bergab mit so kleinem Gepäck. Ich habe nur das Wichtigste dabei: etwas Proviant und einen Schlafsack. Jörg morgen wiederzusehen erfüllt mich nicht nur mit Freude. Wir kennen einander kaum, und ich habe Angst, daß wir uns völlig fremd sein werden. Vielleicht bin ich hier in den Bergen auch eine andere als in Köln. Seit Tagen habe ich mich nicht mehr gewaschen und meine schmutzigen Zöpfe vorsichtshalber unter einem Kopftuch versteckt. Um meine gute Trekkinghose für die Paßbesteigung zu schonen, trage ich eine lange Unterhose mit unförmigen Boxershorts darüber. Auch von Richy, meinem neuen Kameramann, weiß ich nicht viel. Die Vorbereitungszeit für diesen zweiten Anlauf war zu hektisch, um sich wirklich kennenzulernen. Ich habe ihn einmal kurz in einem Café getroffen. Richy kommt aus New

Weitere Kostenlose Bücher