Flucht über den Himalaya
Auf dreitausendfünfhundert Metern Höhe wird es auch für sie Zeit, sich eine Nacht und einen Tag in der dünnen Luft zu akklimatisieren. Bevor wir schlafen gehen, schieben Jörg und ich die engen Holzpritschen unserer Herberge zu einem gemeinsamen Nachtlager zusammen.
»Und dieser Pema, der angeblich aussieht wie Winnetou?« fragt Jörg, als wir uns fremdelnd und fröstelnd aneinanderkuscheln.
»Und diese Blondine von den Malediven?« frage ich zurück.
Wir lachen und spüren, daß wir endlich wieder zusammen sind.
Den ganzen nächsten Tag verbringen wir mit Auspacken, Einpacken, Umpacken. Richys beste Stücke sind ein riesiges Funktelefon, mit dem wir zu unserer Produktionsfirma in München Kontakt halten können, und eine noch größere Proviantdose – von Richys österreichischer Mama bis oben hin vollgestopft mit Packerlsuppen, Leberstreichwurst, Mannerschnitten, ungarischer Salami, körnigem Süßsenf, Ketchup und Mozartkugeln. Was soll uns jetzt noch passieren?
Am Abend schmieden wir Dreh- und Arbeitspläne. Wenn die Flüchtlinge kommen, wird nicht mehr viel Zeit zum Nachdenken sein. Da Richy in den Bergen keine Möglichkeit hat, seine Kamera aufzuladen, und er mit einem schweren Batteriegürtel arbeiten wird, muß jedes Bild, das er filmt, sitzen. Wir haben nicht genügend ›Saft‹ für Experimente.
»Ich brauche vor allem Nahaufnahmen! Die erschöpften Gesichter der Kinder!« sage ich und hoffe im stillen, daß tatsächlich ein paar Kinder über den Paß kommen werden.
»Und die Berge?« fragt Richy.
»Vergiß die Berge, wir dürfen den Fluchtweg ohnehin nicht verraten.«
Normalerweise besteht ein Filmteam aus mindestens fünf Personen: Kameramann, Kameraassistent, Lichtmann, Tonmann und Regie. Wir sind bloß zu dritt. Richy macht die Kamera, Jörg wird ihm assistieren und sich um den aufklappbaren Reflektor kümmern, mit dem er die Sonnenstrahlen einfangen und ihr Licht auf die Gesichter der Flüchtlinge legen kann – ohne jeden Stromanschluß. Ton und Regie mache ich – obwohl ich nicht behaupten kann, das eine oder das andere gelernt zu haben.
»Und wer macht die Fotos?« fragt Richy und holt einen riesigen Apparat aus seiner Fototasche.
»Unmöglich! Wir können dieses Teil nicht auch noch hochschleppen! Keiner von uns wird noch einen Finger frei haben, um den Auslöser zu drücken! Und den tausendarmigen Buddha habe ich nur mental engagiert.«
»Wäre aber schade, bei so einer Produktion keine Fotos zu haben«, meint Richy. »Stell dir vor, du möchtest später einmal einen Artikel schreiben oder den Enkelkindern von eurer ersten gemeinsamen Bergtour erzählen!«
Jörg, Kelsang und ich brechen noch in derselben Nacht auf. Richy muß wegen Kopfschmerzen zurückbleiben. Er wird sich einen Tag länger akklimatisieren.
Die Fototasche setzt mir zu. Und die dicken Schneewolken, die den dunklen Nachthimmel verhängen. Und der fehlende Schlaf. Warum waren Jörg und ich nicht vernünftig genug, die zwei Stunden Nachtruhe tatsächlich mit Nachtruhe zu verbringen?
Wir sind viel zu langsam. Kurz vor dem Checkpoint beginnt bereits der Morgen zu dämmern. In gebückter Haltung hinter dem niedrigem Gestrüpp und den Latschen Deckung suchend, klettern wir auf einen Hügel. Unten am Wegrand liegt das unauffällige, graue Steinhaus, in dem die nepalesischen Wachtposten stationiert sind. Wie viele Soldaten es sind, weiß ich nicht. Vielleicht vier oder fünf. Ihre Aufgabe ist es, Unbefugten den Zutritt in das Sperrgebiet zwischen Nepal und Tibet zu verwehren. Passieren dürfen nur Drogpa, die auf dem Rückweg nach Tibet sind, und Sherpa, die auf den kargen Böden dieses Grenzgebietes leben. Wie scharf die Soldaten darauf sind, Beute zu machen, ist schwer einzuschätzen. Vor einigen Monaten hatten nepalesische Soldaten eine Gruppe von tibetischen Flüchtlingen aufgespürt. Als die Tibeter in ihrer Angst, nach Tibet zurückgeschickt zu werden, die Soldaten mit Steinen angriffen, eröffneten diese das Feuer. Ein Tibeter wurde dabei erschossen.
Vor uns liegt ein großes Stück Kahlschlag: Kein Baum, kein Fels, kein Strauch, der uns Deckung geben könnte. Nur blanker Stein. Aus dem Schornstein des Wachtpostens steigt Rauch auf. Sie sind also bereits aufgestanden. Vielleicht rasieren sie sich gerade. Oder kochen Kaffee. Noch hat sich kein Soldat vor dem Haus blicken lassen. Ich habe nicht die Nerven, auf die nächste Nacht zu warten. Ich möchte so schnell wie möglich bei Pema und Sotsi sein. Wir müssen
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