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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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erfroren!« Suja öffnet seine Jacke, streift Little Pemas Schuh und Socken vom Fuß, packt die Kleine und hockt sich mit ihr auf seinen Rucksack. Dann nimmt er das kalte Beinchen und steckt es unter seinen Pullover. Als Little Pema seine Körperwärme spürt, hört sie zu weinen auf. Instinktiv bildet die Gruppe einen Halbkreis um die beiden, damit der Wind nicht stören kann.
    »Hast du ein zweites Paar Schuhe dabei?« fragt Nima.
    Little Pema schüttelt den Kopf: »Nur Socken.«
    »Ich habe noch ein zweites Paar«, sagt Dolker.
    »Ich auch!« ruft Dhondup.
    »Wir probieren es mit Dolkers Schuhen«, beschließt Nima.
    An Sujas warmer Haut spürt Little Pema den Pulsschlag eines Herzens. Er hat sein Herz im Bauch, denkt sie. Oder er hat zwei. Eines im Bauch und eines in der Brust. Vielleicht ist es auch das Herz eines Leoparden, den er verspeist hat.
    »Siehst du die Sterne?« flüstert Chime zu Dhondup. »Das sind unsere Amalas. Sie schauen auf uns herunter und geben acht, daß nichts passiert.«
    »O ja!« Dhondups Augen beginnen zu leuchten. »Dieser große Stern ist mein Paala. Und der kleine daneben meine Ama.«
    »Meine Ama schimmert grün – kannst du sie sehen?«
    »Ja … Und dein Paala?« fragt Dhondup.
    »Der ist weit weg – auf Geschäftsreise. Dort hinten am Horizont!«
    »Kennst du das Lied ›Leuchtender Stern‹?« fragt Dhondup.
    Chime nickt und stimmt es leise und mit zittriger Stimme an:
    Wenn ich in den Himmel schaue,
    sehe ich einen hell leuchtenden Stern.
    Wenn ich diesen Stern sehe  …
    Weiter kommen die Kinder nicht. Chime versagt die Stimme, und Dhondup rollen die Tränen übers Gesicht. Chime greift nach seiner Hand: »Laß es uns einfach summen.«
    Suja hat die Augen geschlossen, sein Atem geht ruhig und tief. Er versucht, seine Körperwärme an Little Pema abzugeben, ohne dabei selbst abzukühlen. Er hört Lobsang leise ein Mantra murmeln. Er hört die wohlwollenden Gedanken der anderen. Er hört die Kinder summen. Oder sind es die Sterne?
    »O.k.«, sagt Suja und reibt Little Pemas warmen Fuß in seinen Händen. Dann hilft er ihr in die frischen Socken und Schuhe. Als sie weitergehen, läuft Little Pema in Dolkers Schuhen schneller als je zuvor.
    Das Herz des Leoparden hat ihren ›schlimmen Fuß‹ verzaubert.
    Längst hat die Morgendämmerung die Nacht verdrängt, doch Nima macht keine Anstalten, nach einem Versteck Ausschau zu halten. Eine Begegnung mit den Chinesen wäre in dieser Höhe eine unwahrscheinliche Verstrickung karmischen Unheils. Jetzt lauert eine andere Gefahr auf sie: der Schnee. Nima kann ihn bereits riechen. Vom Himmel hängen schwere Wolken in diese unwirtliche Wüste aus Eis und Fels herab. Die Schwermut des Himmels lähmt die Beine, und die Monotonie der Landschaft drückt die Stimmung der Flüchtlinge. Einige klagen über Kopfschmerzen. Vor allem die empfindliche Dolker und Dhondup mit seiner verschnupften Nase haben Probleme mit der dünnen Luft. Nima hat in Lhasa Pillen gegen die Höhenkrankheit besorgt. Sie verdünnen das Blut, das in dieser sauerstoffarmen Region schnell zähflüssig wird. Doch so früh möchte er keinen Gebrauch davon machen, denn sie haben noch etwa tausend Höhenmeter zu bewältigen.
    Viele Guides sind starke Raucher. Das Nikotin besänftigt in der Höhe den Druck hinter der Stirn. Doch Nima glaubt, daß der Rauch einer Zigarette auch die Götter vertreibt. Deshalb verläßt er sich auf ein anderes Hilfsmittel, um über den Paß zu kommen – auf Milarepa, den größten Yogi des Himalaya. An ihn wendet er sich, wenn er erschöpft und mutlos ist. Denn Milarepa konnte seinen Körper in Licht verwandeln und auf den Strahlen der Sonne bis auf den heiligen Berg Kailash fliegen.
    »Erst wenn es zwischen dir und den anderen keine Unterschiede mehr gibt, bist du bereit zu helfen«, hat Milarepa vor etwa tausend Jahren seinen asketischen Schülern gesagt.
    »Nur wenn du anderen hilfst und ihnen dienst, hast du gewonnen! Dann wirst du bereit sein, auch mich zu treffen. Und wenn du mich gefunden hast, wirst du die wahre Buddhaschaft erlangen.«
    Seine große Hilfsbereitschaft, sein starker Glaube und der Verzicht auf Genußmittel haben Nima den Beinamen ›der Mönch‹ eingebracht. Doch ein Mönch ist Nima wirklich nicht! Zu gut gefallen ihm die Mädchen.
    Vielleicht haben mir die Götter diesen Schmerz als Warnung in die Lenden gejagt, denkt er. Als wollten sie sagen: Sobald du ein Mädchen hast, wird es sich jedesmal die Augen wund heulen,

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