Flucht über den Himalaya
es versuchen. Erst gehen Jörg und ich. Kelsang bleibt zurück. Er soll mindestens zehn Minuten warten, bevor er uns folgt. Im Zweifelsfall hat er nichts mit uns zu tun.
Während Jörg und ich Schritt für Schritt den offenen Steinhang queren, stelle ich mir vor, eine Sherpa-Frau zu sein – mit meinem dünnen Mann im Schlepptau. Die ganze Nacht über waren wir auf der Suche nach einem verlorenen Dzo – einer Mischung aus Yak und Kuh, die hier in den niedrigeren Lagen des Himalaya zu Hause ist. Müde gehen wir in Richtung unserer Hütte und freuen uns auf das warme Lager, auf dem wir uns endlich ausschlafen werden. Vielleicht findet unser verlorenes Dzo ja von alleine nach Hause zurück. In der warmen Mittagssonne wird es den großen, wuscheligen Kopf zu unserem niedrigen Fenster hereinstrecken und hungrig mit seiner rauhen Zunge schnalzen.
Ich wage nicht, zum Militärcheckpoint hinunterzuschauen. Ich blende ihn einfach aus. Vielleicht schneiden sich die Soldaten in diesem Moment ihre Fußnägel. Oder sie haben ihre Flinten auf zwei Westler gerichtet, die durch militärisches Sperrgebiet spazieren. Es ist mir egal.
In der Schneezone
Wo genau beginnt der Himalaya? Für Nima dort, wo ihnen langsam und schwerfällig der Gletscher entgegenrinnt. Der Winter war sehr kalt, so daß es der Frühling eilig hatte. Unter der dünnen Eisschicht, auf der sie sich vorwärts arbeiten, hat es bereits zu tauen begonnen. Der Weg ist nur leicht ansteigend, doch spiegelblank. Vorsichtig tasten sich die Kinder über das Eis, das unter den schweren Schritten der Männer leicht wankt. Der Mond ist nur noch eine halbe Scheibe voll, und die Sterne funkeln am Himmel, als wollten sie eine Warnung zur Erde hinabschicken. Wie schwarze Riesen erheben sich in der Ferne die ersten Achttausender und rücken Schritt für Schritt näher. Das leise Grollen einer Lawine erinnert an einen scharfen Wachhund, dessen Aufgabe es ist, den Menschen den Zutritt in die Welt des ewigen Schnees zu verwehren. Die Flüchtlinge haben sich Tücher und Schals vor den Mund gebunden, damit der eisige Wind ihre Lungen nicht angreifen kann. So fällt das Atmen noch schwerer in der dünnen Höhenluft. Wie klein sie sind in dieser gigantischen Kulisse.
Diesen vier Kindern ein Freund und Begleiter zu sein gibt Suja das Vertrauen, das erste Mal in seinem Leben auf dem richtigen Weg zu sein. Wenn Dolker ihre Hand vertrauensvoll in seine legt, versinkt die ganze Welt in Zuversicht. Ein tiefes Gefühl verbindet ihn mit diesem Mädchen. Ihr warmer Blick und die helle, zarte Stimme berühren sein müdes Herz. Am Tag nach ihrer Flußdurchquerung, als die anderen alle in ihren Säcken schliefen, hat Dolker ihn plötzlich aus ihren Decken heraus angeblinzelt und gesagt: »T’ochetch’e, Chola – danke, großer Bruder.« Seitdem nennt er sie still sein ›Seelchen‹. Denn es ist, als ob sie einander schon lange kennen würden. Sein Seelchen wird ihm die Kraft geben, die Kinder durch die Schneezone zu bringen. Nima hat nur noch Kraft für sich selbst. Das kalte Wasser war zuviel für die Entzündung in seinem Körper. Seit einigen Stunden fiebert er. Bei ihrer letzten Rast vertraute er Suja an, daß auf dem Paß Hilfe warten wird. Ein Freund kommt ihnen mit Proviant und Medikamenten entgegen. Er bringt auch ein paar ›Injis‹ mit.
Allein das Wort ›Inji‹ erfüllt Suja mit Neugier und Spannung. Sie sollen ziemlich häßliche Menschen mit heller Haut und dünnem Haar sein. Man nennt sie ›Injis‹, weil sie meistens Englisch sprechen. Suja hat noch nie in seinem Leben einen Inji gesehen.
»Was suchen die auf dem Paß?« fragte er.
Nima zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Hauptsache, sie haben Medikamente dabei.«
Ein Knacken im Eis. Suja späht nach vorne, aber es ist nichts Verdächtiges zu sehen.
Sie gehen weiter.
Nach einer Weile hört er, daß eines der Kinder weint. Es ist Little Pema. Der linke Fuß tut ihr so weh. Wahrscheinlich schmerzt der krumme Knochen, denkt Nima. Doch als er das Bein der Kleinen abtastet, merkt er, daß Schuh und Socken pitschnaß sind.
»Ich bin eingebrochen«, gesteht Little Pema ängstlich, als würde darauf eine schwere Strafe stehen.
»Wann?«
»Weiß nicht.«
Suja schlägt vor, ein Feuer zu machen, damit Little Pema Socken und Schuhe wechseln kann.
Doch Nima ist dagegen: »Unmöglich hier auf dem Gletscher! Wir können nur schnell weitergehen und hoffen, daß wir bald aus dem Eis raus sind!«
»Bis dahin sind ihre Zehen
Weitere Kostenlose Bücher