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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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minus zwanzig Grad. Langsam zieht der Nebel seinen Vorhang zu. Er hat sich nicht alleine vom Himmel herabgeschlichen, sondern auch erste Schneeflocken mitgebracht, die in diesen düsteren Nachmittag fallen. Nima will versuchen, noch vor Einbruch der Dunkelheit das nächste Etappenziel zu erreichen – drei kleine Unterschlüpfe aus Stein, die Nomaden zum Schutz vor Kälte und Schnee errichtet haben. Nicht höher als einen Meter, faßt jeder zwei bis vier Personen. Nima hofft, daß die Steinhäuschen nicht von Drogpa oder den erschöpften Amdo-Mönchen belegt sind. Er braucht dringend einen windstillen Unterschlupf für die Kinder, in dem sie Feuer machen und Tee kochen können.
    Der Wind fordert die Flocken zu einem wilden Tanz auf. Immer dichter wird ihr Treiben, immer schwerer wird es für Nima, den Weg zu erkennen. Einmal gelandet, scheint sich jeder Schneekristall am Stoff der Mäntel und Jacken festzukrallen. Schwer ruht der Schnee auf Rucksäcken und Mützen. Instinktiv ziehen die Flüchtlinge die Köpfe ein und stoßen ihren warmen Atem in die Schals, die sie vor Mund und Nase gebunden haben, damit die eisigen Kristalle nicht den Weg zu ihren Lungen finden. Es fällt kein Wort. Absolute Stille. Nur das Knirschen der Schuhe im Schnee. Die Füße tragen sie immer weiter, steil bergauf, der Grenze zu. Doch die Gedanken wandern zurück nach Hause, zu ihren Familien, Müttern, Vätern und Freunden …
    Was macht Ama jetzt mit meiner Chuba? Und was mit Dolkers Puppe? Mit meiner Schultasche, meinem Kopfkissen und unseren Sandalen? denkt Chime.
    Vielleicht holt sie den Hochzeitsschmuck aus ihrer Truhe, um Platz für all die Sachen zu schaffen, die sie und Dolker nun nicht mehr brauchen. Sorgfältig faltet sie die kleine Chuba zusammen und legt sie zuunterst hinein. Darauf die Unterhemdchen, die Blusen und Sandalen. Drei Sommer lang hat Chime dieselben Schuhe getragen. An den Sohlen kann man sogar die Abdrücke ihrer Zehen erkennen! Vielleicht schenkt Ama die Sandalen einer Familie, die noch ärmer ist als sie. Vielleicht verkauft sie Dolkers Spielzeug auf dem Markt? Chime spürt, wie sich ihre Kehle zusammenschnürt. Ama hat jede Puppe selbst gemacht, aus Stoffresten, Holz und bunten Perlen. Sie hatte sogar kleine Puppenkleider genäht! Für den Sommer eine buntgeblümte Schürze und für den Winter eine dicke Chuba mit einem Krägelchen aus Fell. Ob die Puppen immer noch am Kopfende ihres Bettes sitzen? Ob Ama am Abend immer noch die Decken ihrer Mädchen zurückschlägt? Was wird sie tun, nachdem sie die Kerzen ausgeblasen hat? Bevor sie einschliefen, haben sie sich immer noch unterhalten und die Dunkelheit mit ihrem fröhlichen Geplapper erfüllt. Jetzt ist es nachts ganz still im Haus. Wie ein Blitz durchzuckt Chime ein Gedanke, der viel zu alt für eine Zehnjährige ist: Ama ist nun ganz alleine.
    Was passiert, wenn Ama krank wird? Wer wird für sie kochen? Sie pflegen? Wenn Ama viele Stunden am Webstuhl saß, tat ihr oft der Kopf so weh. Dann durfte Chime mit dem scharfen, chinesischen Balsam einen kleinen Kreis in Amas müde Stirne massieren. Wer wird das jetzt tun für sie?
    Tapfer setzt Chime einen Schritt vor den anderen. Wenn sie in Indien sind, wird sie alles darum geben, eine gute Schülerin zu sein. Sie möchte später Krankenschwester werden. Sie wird den Patienten, die Kopfschmerzen haben, die Stirne mit chinesischem Balsam einreiben. Sie wird viel arbeiten. Sie wird das Geld, das sie verdient, sparen. Jeden Tag werden die Münzen mit lautem Geklimper in eine große Tasse fallen! Sie wird so lange sparen, bis sie reich ist und für Ama ein kleines Haus in Indien bauen kann, mit einem Garten, in dem bunte Blumen wachsen und vielleicht auch ein Zitronenbaum.
    »Wenn ich groß bin, werde ich dich holen«, flüstert Chime leise in ihren Schal. Sie muß schnell gehen. Sie muß sich beeilen, damit Ama nicht mehr lange warten muß.
    Das dichte Schneetreiben macht den Tag zur Nacht. Die Fußspuren der Grenzgänger, an denen man den Pfad erkennen könnte, sind längst verschneit. Doch die Hufe der Yaks und die schweren Schritte der Nomaden, die das ganze Jahr über die Pässe hin und her wandern, haben einen schmalen Grat in den Schnee gestampft, der fest ist wie Erde. So kann Nima den Weg zumindest ertasten, Schritt für Schritt. Das kostet Zeit. Nur der Wind hat es eilig, vom Paß herunterzufegen.
    Lobsang krallt seine nackten Finger in den Innenstoff des Anoraks. Er hat keine Fäustlinge mitgenommen! An

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