Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
Vom Netzwerk:
alles hatte er vor seinem Aufbruch gedacht. Aus zwei Plastiktüten hat er sogar Gamaschen gebastelt, damit ihm der Schnee nicht unter den Saum seiner Hosenbeine kriechen kann. Er hat genau gehört, was dieser Lhasa-Boy in der ersten Nacht ihrer Flucht zu Dhondups Bruder sagte: »Es fängt damit an, daß du deine Finger nicht mehr bewegen kannst. Und wenn sie schwarz wie totes Brennholz sind, kannst du sie nur noch abschneiden.«
    Danach hatten sich die beiden aus dem Staub gemacht.
    Wie ein Schneeleopard packt Lobsang jetzt die Angst am Nacken.
    »Meine Hände!« heult er.
    Doch niemand hört ihn im pfeifenden Wind. Sie haben sich alle unter den Sturmmützen verkrochen und kämpfen ihren eigenen Kampf gegen Kälte, Erschöpfung und Hunger. Lobsang kneift die Augen zusammen und versenkt sich in ein inneres Bild: In Gedanken läßt er die Perlen einer Gebetskette durch seine geschmeidigen Finger laufen … Om mani padme hum … Perle für Perle sendet er ein Mantra zu den Göttern. Das Holz der kleinen Kugeln fühlt sich warm an. Und das Licht der Abendsonne, das einen Sommertag zu Ende bringt, liebkost seine Hände. Die Leute im Dorf fahren auf ihren Pferdewagen die Ernte heim. Ein Feuersalamander huscht über seine nackten Füße, und die Luft duftet nach Blumen und Weihrauch. Om mani padme hum.
    Om mani padme hum, Om mani padme hum, Om mani padme hum …
    Beten auf der anderen Seite des Himalaya mehr als hundert Mönche und Nonnen,
    beauftragt von Pema vor unserem Aufbruch,
    bezahlt von unserem knappen Filmetat.
    Om mani padme hum, Om mani padme hum, Om mani padme hum …
    Schleudert ein alter Khampa gegen das undichte Dach seines Hauses.
    Hätten ihn seine krummen Beine getragen, er wäre mit Little Pema gegangen.
    Nun betet er für sein Enkelkind, das Lichtblick seines alten Lebens war.
    Om mani padme hum, Om mani padme hum  …
    Beten Dhondups Eltern gemeinsam vorm Schlafengehen
    Om mani padme hum …
    Beten zwei Mütter,
jede für sich alleine.
    Die eine reitet über das Weideland.
    Die andere holt den Brautschmuck aus ihrer Truhe,
    um Platz zu machen für die Erinnerung an ihre Kinder.
    Om mani padme hum, Om mani padme hum, Om mani padme hum …
    Beten in Amdo drei Generationen vereint: die Großeltern, Eltern und Brüder.
    Seit Tamding weg ist, hängt ein Foto im Fenster.
    Darau flacht Tamding wie der Dalai Lama!
    Der war ja auch ein Amdo-Boy.
    Om mani padme hum.
    Die Steinhäuschen. Wie kleine Nester scheinen sie geduldig auf die Ankunft der Gruppe gewartet zu haben. Gegenseitig klopfen sich die Flüchtlinge den Schnee von ihren Schultern, Rucksäcken, Ärmeln und Hosen. Dann nehmen sie Zuflucht, verkriechen sich samt ihrem Gepäck in diesen handgemachten Höhlen. Den Göttern sei Dank! Sie sind gerettet. Fürs erste. Was morgen wird, ist jetzt nicht wichtig. An ein Lagerfeuer ist freilich nicht mehr zu denken. Die Nähe ihrer müden Körper muß reichen, um sich gegenseitig warm zu halten. Statt Tee gibt es nur Schnee zum Lutschen.
    Das Fieber schüttelt Nimas Glieder. Es hat seine letzten Reserven verbrannt.
    »Lobsang und ich werden bei dir schlafen«, sagt Suja, »heute nacht müssen sich die anderen Männer um die Kinder kümmern.«
    Er holt die dicksten Decken aus ihrem Gepäck und hilft Nima hinein. Dann legen er und Lobsang sich zu ihm. Suja nimmt den Freund in seine Arme. Lobsang legt seine kalten Hände auf die glühende Brust des Guides. Das schafft Erleichterung für beide.
    Nimas Stimme zittert: »Vielleicht kommt Pema uns entgegen! Von oben hat man einen weiten Blick ins Land.«
    »Er wird da sein. Bestimmt«, sagt Suja.
    »Ich werde ihm die Gruppe übergeben und dann … ich glaube, ich schaffe es nicht weiter.«
    »Du wirst es schaffen«, sagt Suja und drückt Nima fest an sich. Denn in der Höhe verirren sich die Gedanken schnell, und Träume wandern oft seltsame Wege. Noch dazu, wenn man Fieber hat.
    »Und wenn ich dich auf meinen Schultern bis nach Kathmandu tragen muß – ich bringe dich in ein Krankenhaus. Vielleicht ist Pemas Inji-Frau sogar ein Amchi!«
    Nima schließt die Augen. Aus den Nachbarhäuschen dringen die Stimmen der Kinder zu ihnen herüber. Dhondup erzählt den Mädchen einen Witz.
    Er hat viel Kraft. Wenn er groß ist, wird er Gutes für Tibet tun, denkt Nima. Vielleicht wird er sich dann an seinen Guide erinnern.
    »Auch wenn die Chinesen Halsabschneider sind, sollte man keine Witze über sie machen!« ermahnt Goldzahn die Kinder. Doch Little Pema hört nicht auf

Weitere Kostenlose Bücher