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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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zu kichern, und die anderen Kinder fallen in ihr Gelächter ein.
    Es war die Mühe wert, denkt Nima und schließt die Augen.

Nepal, 13. April 2000
    Die ersten Sonnenstrahlen brechen durch die Wolkendecke, und wir lassen uns auf das nächstbeste Stückchen Weidegras fallen. Nach dieser langen Nacht wollen wir ein wenig die Sonne genießen, die sich seit einigen Tagen nur noch vormittags blicken läßt. Für einen kleinen Moment die schwere Last ablegen, den Rücken strecken, sich aneinanderkuscheln, ein bißchen die Augen schließen …
    Als wir aufwachen, steht die Sonne gleißend im Zenit. Unsere Gesichter sind verbrannt, und mein Kopf fühlt sich dumpf an. Zeit für mein erstes Aspirin C in den Bergen. Es verdünnt das Blut, das in der Höhe träge wird wie Lava. Jörg hat zum Glück keine Kopfschmerzen. Aber er ist hundemüde. Ohne jede Alpinerfahrung ist er innerhalb von zwei Tagen von Null auf über viertausend Meter gestiegen! Jetzt verlangt sein Körper nach einer langsameren Annäherung an jeden weiteren Höhenmeter.
    Für Kelsang ist es höchste Zeit, wieder abzusteigen, um Richy zu holen. Er versteckt seinen Rucksack hinter einem dieser Steinmäuerchen, die das Weideland der Sherpa eingrenzen.
    Ich vertraue darauf, den Weg mittlerweile gut genug zu kennen, um mich mit Jörg alleine bis zu unserem Basislager durchzuschlagen. Wir legen oft Pausen ein und trinken möglichst viel Wasser. Überall plätschern kleine Bächlein von Schmelzwasser durch das breite, leicht ansteigende Tal.
    Jörg ist schweigsam. Ich fürchte, er bereut es bereits, mir in den Himalaya gefolgt zu sein. Ich fühle mich unsicher. Wahrscheinlich dachte Jörg, als wir uns kennenlernten: »Oh, eine interessante Frau!«
    Viele Menschen glauben, daß man ein interessanter Mensch ist, nur weil man fürs Fernsehen arbeitet. In Wahrheit bin ich ein ziemlich verschreckter Mensch, der große Angst vor dem Scheitern hat. Wenn die Flüchtlinge kommen, werden wir einen Film drehen. Wenn keine Flüchtlinge kommen, wird es keinen Film geben. Ob Sieger oder Verlierer – im Grunde ist man immer derselbe Mensch. Nur daß der Sieger im Rampenlicht und der Verlierer auf der Abschußliste steht. Und sollte den Flüchtlingen tatsächlich etwas zugestoßen sein, habe ich nicht nur ein gesellschaftliches ›Loser-Problem‹. Ich würde es auch seelisch schwer verkraften.
    Mit meinem Filmprojekt habe ich einen Stein ins Rollen gebracht – nicht abzusehen, welche Lawine er auslösen wird! Vielleicht ist Nima wegen der Verabredung mit Pema an eine Route gebunden, an deren Wegrand ein Unglück lauert. Vielleicht wäre es für Nima günstiger gewesen, die Marschrichtung im letzten Moment zu ändern. Vielleicht war dies nicht mehr möglich, weil Pema bereits unterwegs war und Nima den Freund nicht warten lassen wollte. Ursache und Wirkung – wie eng wir alle miteinander verbunden sind!
    Eine Afrikanerin hat mir in Köln einhundertacht Zöpfe aus langem Kunsthaar geflochten. Multipliziert man die zwölf Tierkreiszeichen mit der Anzahl der Planeten, kommt man auf einhundertacht. In einhundertacht Schriftrollen soll einst der Buddhismus aus Indien nach Tibet gekommen sein. Der »Tausendarmige« ist nur eine von einhundertacht Erscheinungsformen Chenresigs, des mitfühlenden Buddha. Einhundertacht Perlen zählen die Gebetsketten der Tibeter – für einhundertacht Möglichkeiten, sein Leben zu verfehlen.
    Mist. Wo sind wir? Ich hätte mich besser auf den Weg konzentrieren sollen. Der Himmel hat sich wieder zugezogen. Langsam, aber zuverlässig wie immer verhüllt der Nebel die Berge. Schwierig, sich in dieser Suppe zu orientieren.
    »Ich weiß nicht, ob wir richtig sind«, sage ich. Erschöpft läßt sich Jörg auf die Steine nieder. »Ich dachte, du kennst den Weg.«
    »Schon, aber es sieht plötzlich alles so anders aus.«
    » Am Morgen scheint immer die Sonne. Doch am Abend kommt Nebel, und die kalten Winde ziehen auf. Dann kann man kaum noch was sehen. Es ist die Zeit, in der viele Menschen auf dem Weg sterben. «
EIN DROGPA
    Eigentlich wollte ich nur einen Blick hinter die nächste Bergkuppe werfen, in der Hoffnung, irgend etwas zu entdecken, was mir vertraut wäre. Ich habe Jörg zurückgelassen und bin einfach weitergelaufen, immer weiter. Ich wollte vor Einbruch der Dunkelheit herausfinden, ob wir auf dem richtigen Weg sind.
    Der Nebel wird immer dichter. Ein milchiges Weiß, das die ganze Welt um mich herum verschluckt. Sogar der Wind hält seinen Atem an.

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