Flucht über den Himalaya
Plötzlich bin ich ganz alleine. Ich weiß nicht, ob ich fluchen oder beten soll. Ich bleibe stehen und lausche in dieses Nichts. Es ist alles so unwirklich, wie in einem Traum. Ich hebe einen kleinen Stein vom Boden, stecke ihn in meine Tasche. Zögerlich rufe ich nach Jörg. Bekomme keine Antwort. Noch einmal rufe ich, ein kleines bißchen lauter.
»Zazie?«
Die Stimme kommt von oben.
»Pema!«
Er ist nicht alleine. Neben seiner dunklen Gestalt, die jetzt im Nebel auftaucht, bewegt sich die eines Kindes auf mich zu … Ein Junge? Er trägt einen langen grünen Mantel mit goldenen Knöpfen und lacht mir unter seiner großen, dunkelroten Mütze zu.
»Hi Zazie, what’s up?« fragt Pema, als sie plötzlich vor mir stehen. Er klopft mir auf die Schulter und weckt mich auf aus meinem Traum. Der Stein ist immer noch in meiner Hosentasche.
»Das ist Tamding«, sagt Pema.
»Tashi Delek!« sagt der Kleine und strahlt mich an wie ein riesiges Glühwürmchen.
»Tashi Delek«, flüstere ich, weil es mir die Stimme verschlagen hat. Ich muß mich beherrschen, damit ich das Kind nicht in meine Arme schließe und abküsse vor Freude.
»Bist du alleine?« fragt Pema erstaunt.
Oh, mein Gott! Jörg! Wir müssen ihn suchen. Sofort!
Als wir eilig den Hang hinunterstapfen, weicht Tamding nicht von meiner Seite. Mit großer Neugier mustert der Kleine mich von oben bis unten. Ich wage nicht, Pema zu fragen, wie viele Flüchtlinge gekommen sind. Ich bin schon mit diesem einen Kind überfordert. Darauf war ich nicht vorbereitet, es geht mir zu schnell. Wie kann es sein, daß sie schon da sind?
Jörg wartet an einen großen Felsblock gelehnt. Als er mich aus den Augen verloren hatte, knallte er seinen Rucksack auf den Boden und hockte sich darauf. Das Beste, was er tun konnte bei diesem Nebel. Seine Laune ist nicht die beste, doch als Tamding plötzlich grinsend vor ihm steht, ist er versöhnt.
»Nanu, wo kommst du denn her?«
»Sie sind letzte Nacht über den Paß gekommen«, erzählt mir Pema, während wir zum Basislager hochsteigen. »Sechsunddreißig Leute.«
»Sechsunddreißig!« Ich bin etwas geschockt. »Und wie viele Kinder?«
»Nur dieses eine. Und fünfunddreißig Mönche aus Amdo.«
Gut, daß sie es geschafft haben! … Aber nur ein Kind – ich muß schlucken. Ich hatte auf mehr gehofft. Aber als Dokumentarfilmerin kann man nun mal keine Bestellung ans Universum abgeben wie in einer Kölner Kneipe: »Ich hätte gerne eine fünfzehnköpfige Flüchtlingsgruppe mit sechs Kindern und einem Folteropfer für den politischen Touch.«
Ich muß mit dem leben, was mir der liebe Gott geschickt hat. Der Exodus von fündunddreißig rotgewandeten Mönchen, die durch den mystischen Nebel ins Exil wandern – auch daraus kann man etwas machen.
Doch als wir unser Basislager erreichen, kann ich keine einzige Mönchsrobe erspähen: Hier sitzen fünfunddreißig bärtige, finster dreinblickende Männer in schmutzigen Klamotten und essen unseren Proviant auf.
»Das sind Mönche?« raune ich Pema ungläubig zu.
»Die Jungs sind seit drei Monaten unterwegs! Sie waren sogar im Gefängnis! Tamding auch! Du wirst begeistert von ihren Geschichten sein.«
»Tashi Delek!« sage ich und nehme meinen ganzen Mut zusammen, um dabei aufmunternd zu lächeln.
»Tashi Delek!« erwidern sie freundlich. Viele husten. Meine Güte, sie sind in einem erbärmlichen Zustand.
»Wer von ihnen ist Nima?« frage ich Pema.
Pema stellt mich einem etwa vierzigjährigen, drahtigen Tibeter mit dunkler Hautfarbe und schmalen Augen vor. »Das ist der Guide«, sagt Pema, »er hat uns all diese Leute über den Paß gebracht.«
»Gut gemacht«, sage ich und reiche Nima mit etwas Zurückhaltung die Hand. Irgendwie habe ich mir das alles ganz anders vorgestellt. Auch von Nima hatte ich ein anderes Bild in mir getragen. Vielleicht liegt es an seinem Namen. Nima heißt Sonne.
»Hast du ihnen was zu essen gegeben?« frage ich Pema.
»Sure. Aber das Problem ist, daß es so viele sind. Einige brauchen dringend Medizin.«
Ich bin froh über jede Aufgabe, die mir Zeit gibt, nachzudenken. Ich hole meinen Medizinbeutel aus dem Zelt. Jörg kommt mit.
»Was denkst du?« frage ich ihn.
»Das Wichtigste ist, daß sie erst einmal da sind und du dir keine Sorgen mehr machen mußt. Aber klar: Das ist kein Kinder-Treck.«
»Und wir haben keinen Schnee«, füge ich hinzu, »der erste Schneehaufen liegt etwa einen Tagesmarsch von hier entfernt. Wir waren einfach zu
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