Flucht über den Himalaya
sein großes Messer abgeben. Ich verspreche ihm, daß er es in Kathmandu wiederbekommen wird.
»Seht mal die großen Flügel!« ruft Tamding, als zu Mittag endlich der erste Flieger landet. Wenig später laufen die sechs Kinder mit ihren Tickets aufgeregt über die Flugpiste zu unserer Maschine, auf der groß ›Yeti-Airlines‹ steht. Ihre kindliche Neugier verscheucht alle Horrorszenarien aus meinem Kopf. Und als die Maschine auf den Abgrund zurast, habe ich zum ersten Mal im Leben keine Angst, den sicheren Boden unter den Füßen zu verlieren. Mit diesen Kindern an Bord kann einfach nichts passieren. Seit wir unsere Flüchtlinge getroffen haben, fühle ich mich von einer ganzen Schutzengeleskorte beschützt. Mit einem Ruck hebt der Flieger ab und zieht hoch in den azurblauen Himmel.
Heute ist der 23. April 2000. In Deutschland feiern die Menschen Ostern. Und es ist alles gut. Mehr noch: Es ist besser als jemals zuvor.
Schwerelos gleitet unser Flugzeug an der gigantischen Kulisse des Himalaya-Massivs vorbei. Staunend schauen die Kinder aus dem Fenster: Von dort hinten sind sie gekommen, über all diese hohen Berge aus Schnee! Chime verkriecht sich tief in ihren Sitz und kämpft mit den Tränen. Der Himalaya sieht aus wie eine gigantische Mauer aus Eis, wie eine unüberwindbare Grenze aus Schnee, die sie immer von der Mutter trennen wird.
Weine ruhig, flüstere ich ihr in Gedanken zu. Laß endlich deine Tränen fließen!
Doch als Dolker sich lachend zu der älteren Schwester umdreht, reißt sich Chime schnell wieder zusammen. Sie wird durchhalten. Bis zum Ziel ihrer Reise. So, wie sie es Ama versprochen hat.
Der Gottkönig
Mein Herz ist immer beim Dalai Lama
Es dreht sich um ihn,
wie das Goldene Rad Tibets
sich um unsere Heimat dreht und Glück bringt.
So wie wir Tibeter
um den heiligen Schneeberg pilgern.
TIBETISCHES LIED
»Ihr seid alle aus Tibet, und ich sage immer, die Tibeter in Tibet sind die Säulen unseres Landes. Denn ihr seid die Hüter unserer Kultur. Ich heiße euch willkommen.«
Ich glaube nicht, daß die Kinder die Begrüßungsworte Seiner Heiligkeit wirklich begriffen haben. Völlig hingerissen sitzen sie auf dem Boden und lauschen mit zusammengefalteten Händen seiner sonoren Stimme, die – sobald sich Emotionen in die Rede mischen – wie das Quecksilber eines Barometers in die Höhe klettert, um sich am Gipfel eines Gefühls zu überschlagen. Ich habe diese überraschenden Höhen und Tiefen einer Stimme in so ausgeprägter Form nur bei den Amdo-Tibetern erlebt.
Seit mehr als vierzig Jahren empfängt der Dalai Lama jeden einzelnen Tibeter, der den weiten Weg über den Himalaya zu ihm gefunden hat, persönlich. Etwa achtzig Neuankömmlinge drängen sich heute auf der engen Veranda seines schlichten Bungalows. Die meisten kennen wir bereits. Denn als wir frisch gewaschen, mit sauberen Kleidern, aufgeregten Herzen und den weißen Glücksschleifen in der Hand das private Domizil Seiner Heiligkeit betraten, gab es ein freudiges Wiedersehen mit den fünfunddreißig Amdo-Mönchen. Rasiert, geschoren und in dunkelrote Mönchsroben gehüllt, waren sie kaum wiederzuerkennen! Vor Aufregung halten sie sich jetzt an ihren Gebetsketten fest und murmeln Gebete. In Tibet mußten sie den Glauben an ihren Gottkönig verleugnen. Nun dürfen sie dem Dalai Lama ihre Wertschätzung offen zeigen, ohne sich vor Repressalien fürchten zu müssen.
Auch Lobsang hat heute morgen sein dichtes Kopfhaar rasiert. Nun wirken seine Augen noch größer und seine feinen Gesichtszüge wie aus Porzellan gemeißelt. Das dunkelrote Tuch, das er über sein sonnengelbes Unterhemd gewickelt trägt, hat aus unserem ›ältesten Kind‹ einen Mönch gemacht. Lobsang strahlt in dieser Rolle eine solche Würde aus, daß ich kaum mehr wage, ihn zu drücken und zu herzen.
»In Indien ist das Wetter sehr heiß. Deshalb ist es wichtig, auf eure Gesundheit zu achten. Eßt kein altes Fleisch, trinkt kein schmutziges Wasser und geht sofort zum Amchi, wenn ihr ein kleines Problem habt – wie Bauchschmerzen oder Kopfweh …«
Was der Dalai Lama seinen Neuankömmlingen zu sagen hat, sind keine hochtrabenden philosophischen Gedanken, sondern väterliche Ratschläge, die helfen sollen, den Alltag in der Fremde zu meistern. Und als der Gottkönig von den schädlichen Auswirkungen des Rauchens und Trinkens spricht, senken alle jungen Männer – außer den Rotgewandeten – ihren Kopf.
Schade, daß Nima nicht mehr bei uns ist.
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