Flucht über den Himalaya
Nachdem wir in Kathmandu gelandet waren, sind Pema und ich mit ihm in das amerikanische Hospital gefahren. Der Arzt, der den Guide untersuchte, äußerte einen schlimmen Verdacht: Hodenkrebs. Er überwies uns an eine Ambulanz für Ultraschalluntersuchungen. Als wir zu dritt den stickigen Warteraum betraten, begannen etwa zwanzig hochschwangere Nepalesinnen in ihren bunten Saris zu tuscheln. Und als schließlich Nima aufgerufen wurde, war das Gekichere groß.
Pema verschwand zusammen mit seinem Freund hinter einem weißen Vorhang, und ich ging hinaus auf die Straße. Aus Pemas Bauchtasche hatte ich mir ein Päckchen Marlboro stibitzt und zündete mir meine erste Zigarette seit vielen Jahren an. Und als mir schließlich kotzübel war vom Nikotin, hörte ich Pema quer über die Straße brüllen: »Let’s make a big party!« Lachend standen er und Nima in der Tür der Ambulanz. Es gab eine neue Diagnose: Hodenentzündung. Und Pemas Verordnung lautete: Chang mangpo – viel Bier. Nach fünf Tagen war Nima gesund. Zusammen mit Sherpa Kelsang, der unsere ›Bodentruppe‹ wohlbehalten nach Kathmandu gebracht hatte, kehrte der Guide wieder in die Berge zurück.
Wo mag Nima jetzt stecken? Alleine dort oben im Schnee? Vielleicht wärmt er sich im Kreise einiger Drogpa an einer warmen Tasse Tee die Hände. Vielleicht spricht man in Lhasa mit vorgehaltener Hand bereits davon, daß Nima wieder da ist. Und ein paar junge Mütter fangen an, die Rucksäcke für ihre Kinder zu packen: warme Pullover und Sonnenbrillen gegen die Helligkeit des Schnees, ein zweites Paar Socken und Schuhe zum Wechseln …
Am Ende seiner kurzen Ansprache fordert der Dalai Lama die Neuangekommenen auf, zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. In China und vielen anderen kommunistischen Ländern sei ein innerer Wandel spürbar. Die Menschen würden allmählich das Vertrauen in die überholten Machtstrukturen ihrer Regierung verlieren. Längst bekundeten chinesische Intellektuelle, Schriftsteller und Philosophen offen ihre Sympathie für das tibetische Volk! Auch wenn die Situation ihrer Heimat im Augenblick hoffnungslos erscheine – auf lange Sicht werde die Wahrheit siegen.
Richy wechselt das Band in der Kamera: Gleich wird Seine Heiligkeit jeden einzelnen Flüchtling segnen. In einer langen Reihe stellen sich Männer, Kinder und Frauen auf und zittern dem größten Moment ihres Lebens entgegen.
Mit einer Verbeugung überreichen sie ihrem Gottkönig die seidenen Glücksschleifen, die der Dalai Lama segnet und jedem Schutzsuchenden um den Hals legt.
»Aus welcher Provinz kommst du?« fragt er den einen oder anderen Flüchtling, und jedem drückt er als Willkommensgeschenk das Bild einer tibetischen Gottheit in die Hand.
Ich habe innerlich zu zählen begonnen: Etwa fünf Sekunden dauert die Segnung eines Flüchtlings. Das ist viel Zeit für einen Gottkönig – und wenig für einen Menschen, der vier Wochen lang auf der Flucht war und bei jedem Schritt um Freiheit und Leben bangen mußte.
Ein alter Bauer aus der Provinz Kham wird von seinen Gefühlen überwältigt und bricht vor Seiner Heiligkeit zusammen. Wahrscheinlich hat er jeden Tag seines Lebens mit einem Gebet für das Wohlergehen seines Gottkönigs begonnen. Wahrscheinlich hat er alles aufgegeben, um seinen Lebensabend in der Nähe des Dalai Lama verbringen zu können. Vielleicht hat er seine Herde an die Steuer und seine Söhne an die Bordelle der Stadt verloren. Was auch immer der Alte erzählen will – Seine Heiligkeit hat keine Zeit für diese Geschichte.
Als einer der bedeutendsten Religionsführer unserer Zeit ist der Dalai Lama auch einer der meistbeschäftigten Menschen unserer Gesellschaft. Er lebt das Leben eines Mönchs mit all seinen strengen Regeln und Riten, und er ist Staatsmann einer (leider) nicht anerkannten Regierung. Er ist es, der im Exil alles zusammenhalten muß. Und mehr noch: In einer Zeit, in der die Menschen auf der ganzen Welt nach Werten, Maßstäben und spiritueller Orientierung suchen, gibt der Dalai Lama auch Christen, Moslems, Hinduisten und Atheisten Antworten. Neben der rührenden Figur des gebrechlichen Papstes ist der Dalai Lama eine vitale und schillernde Instanz, die für den Weltfrieden steht.
Die Sicherheitskräfte schieben den schluchzenden Bauern aus Kham weiter. Denn in wenigen Stunden geht der Flieger des Gottkönigs nach Delhi. Übermorgen erwartet man ihn zu einer großen Pressekonferenz in Berlin.
Jetzt treten unsere Kinder mit gesenkten
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