Flucht vor den Desperados
sie von Dan entgegennahm. Dann ging ich mit gleichmäßigen Schritten auf Walt & seine Kumpane zu. Den Kopf hielt ich gesenkt.
»Das Kind, das wir suchen«, sagte Boz, »hat kalte schwarze Augen und eine dunkle Gesichtsfarbe. Er hat mir ein Bügeleisen ins Gesicht geschlagen. Er ist etwa genauso groß wie Ihr kleines Mädchen hier.«
Ich erstarrte.
Dan sagte: »Ich habe ihn nicht gesehen.« Aber seine Stimme wackelte.
Ich ging weiter auf die Tür zu. Die Seiten meiner Haube waren wie die Scheuklappen, die Pferde manchmal tragen: Sie bewahrten mich davor, vor den aufmerksamen Augen der drei Desperados, die mich prüfend musterten, Angst zu bekommen.
Nur ihre Beine konnte ich sehen. Ich betete, dass diese Beine ihre Besitzer davontragen würden. Tatsächlich begannen sie, sich zur Seite zu bewegen, um mich durchzulassen.
Dann aber, gerade als ich glaubte, davongekommen zu sein, trat ein Stiefel samt Sporen vor und stellte sich mir in den Weg. Eine weinerliche, nasale Stimme sagte: »Einen Augenblick, meine Kleine.«
Ich wusste, dass der Stiefel zu Boz gehörte, dem ich die Nase gebrochen hatte. Ich wusste, wenn ich zu ihm aufschaute, würde er meine »kalten schwarzen Augen« und meine »dunkle Gesichtsfarbe« erkennen.
Also warf ich die Teller zu Boden und rannte los.
Ich hörte jemanden brüllen: »Hinterher, Jungs!«
Ihr Stiefel mit den Sporen klangen auf dem Gehsteig hinter mir wie Pistolenschüsse.
Dann hörte ich eine Kugel an meinem Ohr vorbeizischen & begriff, dass es wirklich Pistolenschüsse waren.
KONTOBUCHBLATT 22
Sogar in der Nacht sind die Straßen von Virginia City belebt. Als ich, ohne nach links oder rechts zu schauen, über die Sutton Street raste, wurde ich beinahe von einem Zweispänner niedergetrampelt. Die Pferde scheuten und schlugen nur Zentimeter von meinem Kopf mit ihren Hufen in die Luft.
Aber ich hatte bloß einen Gedanken: »Ich muss diesen Kugeln entkommen!«
Auf der B Street angekonmen, wandte ich mich in südliche Richtung.
Als ich um eine Ecke gebogen war, sah ich offene Flügeltüren, aus denen Licht nach draußen drang.
Ich stürmte hinein und einige mit Teppich ausgelegte Treppenstufen hinauf, dann links über einen Korridor, der auf beiden Seiten von Räumen mit Nummern an den Türen gesäumt wurde.
Das muss ein Hotel sein, dachte ich.
Ich hörte auf der Treppe hinter mir klirrende Sporen, also begann ich, die Türen auszuprobieren.
Ich fand eine unverschlossen, riss sie auf & rannte in ein schummrig beleuchtetes Zimmer hinein.
Aus den Augenwinkeln heraus sah ich eine Frau in einem bauschigen limettengrünen Kleid und einen Mann in einer Brokatweste. Sie hüpften auf dem Bett auf und ab. Ma Evangeline hätte das nicht befürwortet. Sie hatte immer mit mir geschimpft, wenn ich auf einer Matratze auf und ab gehüpft war. Sie sagte, das sei schlecht fürs Bettgestell.
»Hey!«, rief der Mann, und die Frau kreischte: »Oh! Ein kleines Mädchen!«
Ich ignorierte sie & stürmte durch gläserne Flügeltüren direkt vor mir. Ich war ziemlich in Fahrt und konnte mich gerade noch stoppen, bevor ich über das Geländer eines Balkons & auf einige Pferde stürzte, die unten angebunden waren. Ich wankte zurück und schaute mich um. Es gab noch einen weiteren Balkon, drüben an dem Gebäude zu meiner Rechten, aber zwischen den beiden Balkonen klaffte eine ziemlich große Lücke. Und es ging sechs Meter in die Tiefe. Ich würde hinüberspringen müssen, wenn ich entkommen wollte.
Während ich die kleinen weißen Stiefelchen verfluchte und mir meine Mokassins zurückwünschte, kletterte ich auf das Geländer. Einen Moment lang schwankte ich, dann fand ich mein Gleichgewicht.
Ich sprang.
Ungeschickt landete ich auf dem anderen Balkon und verstauchte mir leicht das rechte Fußgelenk.
»Verd … mt!«, murmelte ich, während ich auf die Glastüren zuhumpelte. Zum Glück waren sie unverschlossen. Sieführten in einen dunklen Raum. Ein dünner Lichtschein am anderen Ende ließ den Spalt unter einer Tür erkennen. Ich konnte den gedämpften Klang eines Hurdy Gurdys hören, das »Aura Lee« spielte. Ich rannte durch den dunklen Raum, und als ich die Tür am anderen Ende öffnete, stieß ich ein Stoßgebet aus – zum Dank und als Bitte. »Hilf mir, lieber Gott«, betete ich. »Oh, hilf mir, diesen Desperados zu entkommen!«
Der Klang des Hurdy Gurdys wurde lauter, als ich auf eine hölzerne Balustrade trat.
Ich konnte Whiskey und Zigarrenrauch riechen. Dies und die fröhliche
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