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Flüchtig!

Flüchtig!

Titel: Flüchtig! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Krankheit abzutöten. Ich behaupte nicht, daß es schmerzlos sein wird, aber medizinische Behandlung ist das einzige, was sein Leben retten kann.«
    »Hat Ihnen der Mex-Doktor den Auftrag gegeben, mir das zu sagen?«
    »Nein. Das sage ich Ihnen. Sie brauchen nicht zurückzugehen zu Doktor Melendez-Lynch. Wir finden auch einen anderen Spezialisten. In San Diego.«
    Der Junge stöhnte im Schlaf. Sie lief zu ihm hin, sang ein leises, wortloses Wiegenlied und streichelte ihm das Haar. Woody beruhigte sich.
    Sie wiegte ihn in den Armen. Ein Kind, das ein Kind in den Armen hält. Ihre makellosen Züge bebten, sie war dem Zusammenbruch nah. Dann kamen plötzlich wieder die Tränen, in einem Gießbach, der ihr übers Gesicht strömte.
    »Wenn wir in ein Krankenhaus gehen, nehmen sie ihn mir weg. Ich kann mich hier viel besser um ihn kümmern.«
    »Nona«, sagte ich und legte all mein Mitgefühl in meine Stimme, »es gibt Dinge, die nicht einmal eine Mutter für ihr Kind tun kann.«
    Das Schaukeln hörte einen Moment lang auf, dann wurde es fortgesetzt.
    »Ich war heute abend im Haus Ihrer Eltern. Ich habe das Gewächshaus gesehen und die Notizen Ihres Vaters gelesen.«
    Sie schaute mich überrascht an, hatte offenbar nie etwas von seinen Notizen gehört oder gesehen. Aber sie unterdrückte die Überraschung und tat so, als höre sie mir gar nicht zu.
    Ich fuhr fort, leise auf sie einzureden. »Ich weiß, was Sie durchgemacht haben. Es fing an mit dem Tod der Cherimoyas. Ihr Vater war vermutlich schon immer unausgeglichen, aber der Mißerfolg und die Hilflosigkeit haben ihn endgültig fertiggemacht. Er hat versucht, die Dinge wieder unter Kontrolle zu bringen, indem er Gott spielte. Und er schuf sich seine eigene Welt.«
    Sie versteifte sich, zog sich von dem Jungen zurück, legte seinen Kopf wieder auf das Kissen und ging hinaus. Ich folgte ihr in die Küche und behielt das Messer im Auge, das immer noch in der Spüle lag. Sie streckte sich und holte eine Flasche Southern Comfort von einem hohen Regal herunter, schenkte eine Kaffeetasse halb voll, lehnte sich gegen die Theke und schluckte. Da sie offenbar harte Drinks nicht gewohnt war, schnitt sie eine Grimasse und begann dann heftig zu husten.
    Ich klopfte ihr auf den Rücken und führte sie zu einem Stuhl. Sie nahm die Flasche mit. Ich setzte mich ihr gegenüber und wartete, bis sie aufgehört hatte mit dem Husten, ehe ich fortfuhr.
    »Es begann als eine Serie von Experimenten. Unheimliche Experimente, bei denen er mit Inzucht arbeitete und komplizierte Veredelungsmethoden anwandte. Dabei blieb es für eine Weile - unheimlich, aber nicht kriminell, bis er merkte, daß Sie zur Frau heranwuchsen.«
    Sie schenkte wieder Bourbon in die Tasse, warf den Kopf in den Nacken und kippte den Alkohol hinunter: die Karikatur einer hartgesottenen Säuferin.
    Früher einmal war sie alles andere als hartgesotten gewesen. Ein hübsches kleines Mädchen, so erinnerte sich Maimon an sie, lächelnd und freundlich. Die Probleme hatten angefangen, als sie um die zwölf Jahre alt war. Und der Anwalt hatte nicht gewußt, warum. Aber ich wußte es.
    Sie hatte die Pubertät drei Monate vor ihrem zwölften Geburtstag hinter sich gebracht. Swope hatte es an dem Tag, als er es entdeckte, in seinen Notizen vermerkt: ›Heureka! Die Annona hat eine Blüte angesetzt. Es mangelt ihr an intellektueller Tiefe, aber was für eine körperliche Perfektion! Das ist wirklich erstklassiges Material…‹
    Er war fasziniert gewesen von der Verwandlung, die mit ihrem Körper vor sich ging, hatte alles in botanischen Begriffen beschrieben. Und während er ihre Entwicklung beobachtete, hatte ein gespenstischer Plan in seinem zerstörten Geist Gestalt angenommen.
    Ein Teil seines Wesens war noch organisiert und diszipliniert. So analytisch wie bei Mengele, dem KZ-Arzt. Die Vorführung wurde mit der Präzision eines wissenschaftlichen Experiments vorbereitet.
    Der erste Schritt bestand darin, daß er das Opfer entmenschlichte. Um die Gewalttat zu rechtfertigen, ordnete er sie neu ein: Das Mädchen war nicht mehr seine Tochter, nicht einmal mehr eine Person. Nur das Exemplar einer neuen Spezies. Annona zingiber. Die ingwerfarbene Annona. Ein Stempel, der befruchtet werden mußte.
    Als nächstes kam die semantische Verdrehung der ungeheuerlichen Tat selbst: Die täglichen Ausflüge in den Wald hinter dem Gewächshaus waren keine Inzesthandlungen, sondern ein neues, interessantes Projekt. Die Untersuchung der

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