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Flügel aus Asche

Flügel aus Asche

Titel: Flügel aus Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaja Evert
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führte eine Treppe an der Außenseite des Gebäudes empor in den ersten Stock. Adeen hatte sie oft gesehen, wenn er Zauber zu Charral in den Hof gebracht hatte, sie aber nie selbst betreten. Dieses Stockwerk war Magiern und höherrangigen Mitarbeitern der Akademie vorbehalten.
    »Hört ihr das?«, fragte Yoluan plötzlich.
    Sie verharrten und lauschten. Durch die Stille drang ein schwaches Geräusch, bei dem sich Adeens Magen zusammenzog: Ein fernes Stöhnen, dann ein einzelner erstickter Schrei.
    Schwärmer kniff die Augen zusammen, und die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. »Woher kommt das?«
    »Aus dieser Richtung, glaub ich.« Mit ausgestrecktem Arm wies Yoluan auf die andere Seite des Innenhofs, und nun wusste Adeen, welchen Gedanken er sich die ganze Zeit über verboten hatte: den an seine Kollegen, die anderen Schreiber. Denn dort lag der Schreibsaal, wo er so viele Jahre seines Lebens verbracht hatte.
    Er besann sich allzu deutlich auf das Gespräch über die Schreiber, das er mit Talanna geführt hatte. Noch immer hoffte er, sie möge sich geirrt haben. Plötzlich saß ihm das Entsetzen wieder in der Kehle.
    Schwärmer zögerte, und Adeen konnte ihm ansehen, wie es in ihm arbeitete. »Wir haben keine Zeit, um nachzusehen«, sagte er schließlich und sah um Jahre älter aus, »wir müssen unseren Auftrag erledigen.«
    Adeen wusste, dass er recht hatte. Doch er wusste ebenfalls, was hier geschehen war, betraf auch ihn unmittelbar. Er gehörte zu den Schreibern, verfügte über dieselben Kräfte wie sie, und er wollte ihr Schicksal kennen, denn es war ein Teil seines eigenen.
    »Nur einen Augenblick«, murmelte er, »ich komme sofort nach.«
    Schwärmer öffnete den Mund, wie um zu widersprechen, sah ihn dann aber nur ernst an, wandte sich ab und stieg die Treppe hinauf.
    Adeen rannte los.
    So oft waren seine Füße über diese Bodenplatten gelaufen, über diese Treppenstufen aus glänzendem rosafarbenem und weißem Stein, aber heute stolperte er vor Eile. Die Tür war nur angelehnt. Für einen Moment zuckte Adeen zurück, als er einen blutigen Handabdruck auf der Klinke entdeckte. Dann stemmte er die Tür auf.
    Obwohl er mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, konnte er nur fassungslos anstarren, was vor ihm lag. Durch die hohen Fenster fielen lange Streifen von Licht in den Saal und beleuchteten ein Gemetzel wie auf dem Schlachtfeld. Die Schreiber waren niedergemacht worden, wo sie gerade gesessen hatten. Einige hatten offenbar versucht, sich unter ihren Pulten zu verstecken oder zur Tür zu flüchten. Adeen sah Hände, die sich um die Federmesser gekrampft hatten – die einzige klägliche Waffe, die den Schreibern zur Verfügung gestanden hatte –, verkrümmte Gestalten, die noch immer mit beiden Armen ihr Gesicht zu schützen versuchten, obwohl ihr Körper voller Wunden war. Wie lange mochten sie hier schon liegen? Einige Körper hatten versengtes Haar und schwarz verbrannte Hände. Hatte man sie mit Magie attackiert, oder hatten sie in ihren letzten Augenblicken ihre Magie gefunden, um sich gegen ihre Mörder zu wehren? Adeen sah in Gesichter, die er kannte: Selka mit den alterskrummen Händen, die nach der Arbeit am liebsten Witze über Kiven gemacht hatte, Dalaimar, der so langsam geschrieben hatte, dass ihm Kiven manchmal seinen Stab über den Rücken gezogen hatte, die junge Piri, fast noch ein Kind, und so viele andere. All diese Schreiber waren seinesgleichen gewesen, Erdmagier, deren Macht die Magier von Rashija fürchteten. Deshalb hatten sie die Schreiber getötet, ehe sie ihnen gefährlich werden konnten.
    Er war der Letzte von ihnen.
    Der Boden des Raumes schwamm von Blut, seine Schuhe waren bereits feucht davon. Doch Adeen konnte sich nicht rühren, nicht einmal zurückweichen. Der Anblick lähmte ihn. Wäre er nicht zufällig an Nemiz und seine Leute geraten, läge er nun auch dort, von einer Klinge durchbohrt oder von Feuermagie verbrannt, ohne die Macht, die in ihm lebte, auch nur kennengelernt zu haben.
    »Wer ist da? Hilf mir … bitte!«
    Adeen fuhr zusammen, als er die Stimme hörte. Für den Moment hatte ihn das Entsetzen vergessen lassen, dass ihn das Stöhnen eines Verletzten hergerufen hatte. Unter den Toten bewegte sich etwas: Eine junge Frau kroch über den glitschigen Boden auf ihn zu. Ihr Gesicht, ihre Arme, alles an ihr war blutbesudelt, und Adeen konnte unmöglich erkennen, ob es ihr eigenes oder fremdes Blut war.
    »Beweg dich nicht!« Er überwand seine Abscheu, stieg

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