Flügel aus Asche
Vordertor spazieren, sondern einen Hintereingang benutzen. Adeen?«
»Der Eingang zur Bibliothek ist immer versperrt. Der Mann, der damals meine Arbeit beaufsichtigt hat, Kiven, hatte einen Schlüssel. Wenn wir an den herankommen würden …«
»Wir brauchen keinen Schlüssel, Bohnenstange«, sagte Ghaves. »Zeig mir eine Tür, die nicht gerade aus Baumstämmen oder Stahl besteht, und sie wird Bekanntschaft mit meiner Brechstange machen.«
»Sie besteht aus dicken Brettern. Schwarzes Holz, sehr stabil. Aber du kannst sie dir gern ansehen.«
Sie bewegten sich vom Haupttor fort und schlichen über einen Umweg zur Rückseite der Akademie, wo eine kleinere Treppe zur Bibliothek hinaufführte. Überraschenderweise war sie unbewacht. Adeen atmete auf. Er hatte die Bibliothek niemals betreten, weil es einer Krähe wie ihm streng verboten war, den Bücherschatz der Magier von Rashija auch nur zu betrachten. Talanna kannte sich dort aus – umso schlimmer, dass sie nicht mehr bei ihnen war.
Auch wenn der Eingang zur Bibliothek lange nicht so groß war wie die Doppelflügel des Haupttors, wirkte er immer noch furchteinflößend genug. Der geschnitzte Kopf eines Drachen hob sich gespenstisch vom Holz ab. Von den gebleckten Zähnen und der blanken Zunge blätterte gelbe und rote Farbe. Ghaves zog eine Metallstange aus dem Gepäck und versuchte, sie im Türspalt anzusetzen. Einen Moment später fuhr wie aus dem Nichts eine blauweiße Stichflamme aus dem Holz hervor. Sie traf Ghaves nicht direkt, da er seitlich neben der Tür stand, dennoch fuhr er mit schmerzverzerrtem Gesicht zurück und ließ die Stange fallen. Ihr Ende glühte rot, als wäre es eben aus dem Schmiedefeuer geholt worden, und brannte zischend einen schwarzen Fleck auf den Boden.
Die Gruppe wich einen Schritt zurück, und alle murmelten dasselbe Wort: Magie.
»Ein Zauber, der gegen Eindringlinge schützen soll.« Adeen war sich seiner Sache nicht vollkommen sicher, aber nachdem Talanna sie verlassen hatte, lag es wohl an ihm, eine Erklärung zu finden. »Kein Wunder, dass sie keine Wachen brauchen.«
Ghaves umklammerte mit der Linken sein Handgelenk. Die Handfläche der Rechten hatte sich mit roten Verbrennungen und Brandblasen überzogen. »Verflucht! Ich kann mein Schwert nicht mehr benutzen!« Nach all dem selbstherrlichen Getue klang er jetzt so, als sei er den Tränen nahe. Zum Glück hatte er die Brechstange nur mit einer Hand gehalten, sonst wäre er völlig hilflos gewesen.
Behutsam trat Adeen vor und untersuchte die Tür, ohne sie zu berühren. In der weißen Sonne zeichnete sich die Form des geschnitzten Drachenkopfes besonders deutlich ab, jeder winzige Schatten, den eine Schuppe warf. Es war, als enthalte das Bild selbst eine Warnung: Der angreifende Drache würde sein Feuer auf jeden speien, der ihm zu nahe kam.
Warum Holz?,
fragte sich Adeen. Holz war auf Rashija selten, und ohne magische Bearbeitung würde es weniger Widerstand bieten als Metall, wenn man, so wie Ghaves, mit einer Brechstange darauf losging. Weshalb also schützten die Magier von Rashija ihre kostbare Bibliothek mit einer Holztür und verwandten auch noch Mühe auf eine abschreckende Schnitzerei? Allein die Fratze eines Drachen konnte keinen Eindringling fernhalten. Adeen schloss die Augen und versuchte, sich an das zu erinnern, worüber er damals mit Talanna gesprochen hatte, kurz bevor sie ihm die Wahrheit über ihren Verrat gestanden hatte. Um Schriftmagie war es gegangen, um die besondere Wechselwirkung, die zwischen dem Papier, der Tinte und dem Schreiber entstand … einander ergänzende Elemente, die die Wirkung des Zaubers erst ermöglichten …
»Jetzt ist wirklich keine Zeit zum Schlafen!« Yoluan zog Adeen von der Tür weg, halb unwillig, halb besorgt. »Wir dürfen hier keine Wurzeln schlagen.«
»Erdmaterial«, murmelte Adeen. Auf einmal verstand er.
»Was?«
»Das Holz. Es ist Erdmaterial. Es ersetzt das Papier. Dieses Schnitzwerk verbirgt einen Schriftzauber. Wenn ich ihn sehen könnte …«
Und plötzlich, als wäre ihm ein Schleier von den Augen genommen, erkannte Adeen die Schriftzeichen, aus denen der Drache bestand. Seine Schuppen, seine Augen, die geblähten Nüstern und die imposante Zackenmähne, alles waren filigrane Symbole, die ein unbekannter Künstler in das Holz gegraben hatte. Sie schmiegten sich so dicht aneinander, dass man sehr genau hinsehen musste, um nicht nur Linien und Kerben zu sehen. Wie jedes Artefakt benötigte auch diese Tür
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