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Flügel aus Asche

Flügel aus Asche

Titel: Flügel aus Asche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaja Evert
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über das Gesicht, denn er sah nichts außer gleißenden Farbflecken. Nur langsam nahm seine Umgebung Konturen an. Er lag auf dem Pflaster des Marktplatzes von Rashija, über ihm ein blauvioletter, wolkenloser Himmel.
    Um ihn herum stöhnten Verletzte.
    Plötzlich erinnerte er sich an alles: Charral hatte den Schriftzauber aktiviert, mit dem der Herrscher all die Jahre in seinem Palast gesessen hatte. Die letzte Schutzvorkehrung, die den Leichnam davor bewahren sollte, in die Hände der Feinde zu geraten – oder war sie dazu gedacht, die Feinde des Herrschers auszulöschen, wenn genau das geschehen sollte?
    »Oh, ihr Mächte.«Taumelnd kam Adeen auf die Füße. Wie ein Echo in seinem Geist fühlte er noch immer die schwarzen Flügel, die ihn eingehüllt hatten, als der Zauber die Welt zerrissen hatte. Dem Aschevogel, diesem Teil von ihm, verdankte er es, dass er noch lebte. Schneller als Adeens Verstand war er bei ihm gewesen, um ihn zu schützen. Das Bild, das sich ihm bot, ließ ihn schaudern: Wo die Leiche des Herrschers gelegen hatte, befand sich nur noch ein weißer Fleck geschmolzener Masse. Es war wie Ruß, nur hatte die Magie den Ort nicht geschwärzt, sondern ausgebleicht und allem seine Farbe genommen – ein Zauber, der die Substanz der Welt selbst angriff und dem nichts standhalten konnte. Von Charral war nichts mehr zu sehen. Rings um den fahlen Fleck waren die Menschen niedergeworfen worden wie unter einem Sturm. Diejenigen, die sich in der Nähe des Herrschers befunden hatten, rührten sich nicht mehr. Andere rappelten sich auf, genauso mühsam wie Adeen, und begannen umherzustolpern.
    Adeen fehlte die Kraft, um zu verstehen, was er sah. Er hatte nur einen Gedanken: Talanna. Sie hatte Charral gepackt, als der Schriftzauber aktiviert worden war. Es durfte nicht sein – hastig stemmte er sich hoch und blickte sich nach ihr um.
    »Talanna.«
    Adeen fiel neben ihrem verkrümmten Körper auf die Knie. Talanna lag mit dem Gesicht auf dem Boden, ihr rotes Haar und die violette Haut waren dort, wo die Magie sie getroffen hatte, voller weißer Streifen und Flecken. An den Armen wirkte ihre Haut wie geschmolzen. Adeen presste sein Gesicht in ihren Nacken und klammerte sich an sie, während ihn Krämpfe schüttelten und er trotzdem nicht weinen konnte.
    Bildete er es sich ein, oder hatte er ihre Stimme gehört?
    Er fiel. Aber es war, als würde nicht sein Körper fallen, sondern sein Geist – in den Abgrund einer zerstörten Welt, deren Farben bösartige Magie ausgebrannt hatte. Kälte schlug über Adeen zusammen, als wäre er durch eine Eisschicht eingebrochen. Er stürzte Hals über Kopf, drehte sich in der Leere, und das Echo der schwarzen Schwingen in seinem Verstand wuchs erneut zu einem Flügelpaar an, dem einzigen dunklen Fleck innerhalb der Farblosigkeit. Es trug ihn, ließ ihn sanft hinabgleiten. Die Hitze des Vogelkörpers sandte Wärme in sein Bewusstsein, das Kälte und Entsetzen starr werden ließen.
    Was geschieht mit mir? Und wo bin ich?
    Er stand in einer ausgeblichenen Landschaft, auf rissigen Erdschollen, alles vollkommen farblos. Sein Schatten zeichnete sich scharf auf dem Boden ab, eine Gestalt in einer Robe, geflügelt, im einen Augenblick mehr Mensch, im anderen mehr Vogel. Und auch seine Umgebung veränderte sich. Er glaubte Bäume zu sehen, einen Horizont oder einen nebligen See in der Ferne, aber nichts war von Dauer, die Schemen einer Landschaft veränderten sich rascher als Wolken im Wind. Er wusste: Nichts von dem, was er sah, war real. In Wahrheit kniete er noch immer auf dem Marktplatz von Rashija und presste Talanna an sich. Er spürte, wie sich ihr stacheliges Haar gegen seine Wange drückte. Doch zugleich fauchte ihm ein heiserer Wind ins Gesicht. Pulverige weiße Erde hinterließ Flecken an seinen Stiefeln wie Staub.
    »Talanna?«
    Er hatte das Gefühl, dass sie bei ihm war. Und dabei wusste er, dass sie tot war. Charral hatte sie getötet, als er Rache genommen hatte für die Vernichtung seiner Welt. Adeen konnte es nicht begreifen, und er weigerte sich, es zu akzeptieren. Es durfte nicht wahr sein nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten. Alles war doch schon so gut wie vorbei gewesen.
    Seine Augen brannten im Wind, der ihm Sandkörner entgegenschleuderte, scharfkantiges Gras stach durch den Stoff seiner Hose, als wolle alles in dieser Welt sich ihm entgegenstellen – oder war es etwas anderes?
Ich will nicht gehen,
flüsterte der Wind, der gar nicht der Wind

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