Flügel aus Asche
bringen, worum Ihr gebeten habt.«
Talannas Vater presste eine Hand auf den Mund und wich zurück, soweit es die Soldaten zuließen. Vermutlich hatte er nichts davon geahnt, dass auch seine zweite Tochter für den Feind arbeitete.
Magierkrieger schleppten eine Trage heran, auf der ein verhüllter Körper lag. Für einen Augenblick zog sich alles in Adeen vor Schreck zusammen, denn er fürchtete, dass es Talanna sein könnte. Dann aber schlug die Königin die Decke zurück, und zum Vorschein kam der Leichnam des Herrschers in seinem bestickten Mantel. Er hatte es offensichtlich nicht allzu gut überstanden, von seinem Thron gerissen und auf den Marktplatz verschleppt zu werden, denn sein Körper schien in der Mitte durchgebrochen zu sein, was der Mantel nur notdürftig verbarg.
Die Soldaten hoben bereits ihre Waffen, um die Menge notfalls mit Gewalt zurückzuhalten. Aber die Wirkung, die der Anblick des Toten auf die Menschen ausübte, glich der eines lähmenden Zaubers. Wie betäubt starrten alle, ungläubig und benommen, überwältigt von einer Wahrheit, die sie nun zwar kannten, aber trotz allem nicht begreifen konnten. Sogar die Ratsmitglieder schien es zu treffen. Sie drängten sich dichter aneinander, steckten die Köpfe zusammen und murmelten, bis die Soldaten sie trennten. Adeen verstand nur wenige Worte. »Ich tue es nicht«, wisperte Talannas Vater, und der Mann namens Naramai, der so entschlossen war, lieber zu sterben, als zu verhandeln, verzog das Gesicht und starrte auf seine Stiefel. Kurz fragte Adeen sich,
was
sie nicht tun wollten, aber ehe er genauer darüber nachdenken konnte, weckte eine neue Bewegung seine Aufmerksamkeit.
Die Magierkrieger unter Kuamas Kommando bezogen Aufstellung rings um die Trage. Als Letzte trat Talanna auf den Platz. Adeens Herz machte einen kleinen Sprung, als er sie sah. Deshalb kam sie also so spät. Sie hatte ihrer Schwester geholfen, den Leichnam des Herrschers zu bergen und hierherzubringen. Zweifellos war das die Aktion, die die Königin hatte geheim halten wollen. Talanna warf einen kurzen Blick auf ihren Vater und wandte sich sofort wieder ab.
Adeen trat zu ihr und berührte ihre Hand. Sie sah ihn an, kurz überrascht, dann lächelte sie schwach.
»Bald ist es vorbei«, sagte sie leise. »Auf die eine oder andere Art.« Und kaum hörbar fügte sie hinzu: »Ich bin so müde, Adeen.«
Adeen schloss kurz die Augen und spürte die schwache Wärme der Wintersonne auf seinen geschlossenen Lidern. Der Gedanke, dass all der Schrecken bald vorbei sein würde, gab ihm Hoffnung. Auch er war erschöpft genug, um tagelang durchzuschlafen.
Schweigend nahm Talanna ihren Platz in der Nähe der Königin ein. Plötzlich entstand erneut Unruhe in der Menge. Ein einzelner Mann bahnte sich seinen Weg auf den Platz, und die Menschen schienen nicht zu wissen, ob sie vor ihm zurückweichen oder auf ihn losgehen wollten. Der Mann war schwer verletzt, taumelte und wäre gestürzt, hätte er sich nicht auf einen Magierstab gestützt. Die meisten Wunden hatte er notdürftig verbunden, aber die Flecken auf seiner zerschlitzten Robe verrieten, wie stark er geblutet haben musste. Sein Stab konnte ihm nur noch als Krücke dienen, denn wie bei den Ratsmitgliedern waren sämtliche Kristalle daran zerbrochen. Adeen erkannte ihn nicht sofort: Schwarze Blutklumpen verkrusteten sein helles Haar. Doch dann riss er erschrocken den Mund auf.
»Charral –«
Ein Teil von ihm war erleichtert, den Mann lebend zu sehen. Was mochte mit ihm geschehen sein, wie war er hierhergelangt? Sicher hatten ihn seine Untergebenen gerettet. Wie auch immer, wenn Charral auftauchte, konnte das nichts Gutes bedeuten, das wusste Adeen aus Erfahrung.
Die Ratsmitglieder starrten Charral an, ebenso fassungslos wie Adeen.
»Er lebt!«, murmelte Talannas Vater. »Hieß es nicht …«
»Verehrte Hoheit, Königin der Erdkriecher!« Charral humpelte auf die Königin zu und machte eine spöttische halbe Verbeugung vor ihr, wobei er sich mit beiden Händen an seinen Stab klammerte. »Ihr wollt die Verhandlungen doch nicht ohne mich beginnen? Ich gehöre ebenfalls zum Rat und verlange, dass man mich nicht übergeht!«
Er war außer Atem, aber in seinen Augen glänzte Entschlossenheit. Adeen wurde flau, ohne dass er recht wusste, warum. Er trat auf die Königin zu. »Herrin, Ihr müsst Euch vor diesem Mann hüten, er … Ihr könnt ihm nicht trauen.«
»Ich muss Adeen zustimmen«, sagte Talanna. »Wir sollten ihn nicht
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