Flügel aus Asche
Menschen dieser Stadt wurden durch eine Lüge regiert. Wir haben sie davon befreit. Wer diese Lüge verbreitet hat, ist allen bekannt: Es waren diese Männer und Frauen, der Rat von Rashija.«
Sie wies auf die Gefangenen, und erneut musste sie innehalten, weil der Lärm ihre Stimme übertönte. Mit Gewalt stießen die Soldaten die Umstehenden zurück, damit sie nicht auf den Platz drängten und sich auf die Ratsmitglieder stürzten. »Ich stehe nicht hier, um abzurechnen«, fuhr die Königin schließlich fort, »sondern um zu verhandeln. Die Truppen des Rats sind noch immer dort draußen auf den Straßen und stiften Unheil. Sie machen die einfache Bevölkerung nieder, nachdem sie sich von ihnen nicht mehr länger täuschen lassen will. Wir müssen diese Menschen schützen. Aber ich werde auch keine Übergriffe meiner eigenen Soldaten dulden. Wer etwas Derartiges tut, wird sich vor mir verantworten müssen. Diese Kämpfe müssen aufhören, jetzt.«
Einige Atemzüge lang herrschte Schweigen, dann breitete sich zögernder Beifall in der Menge aus. Doch Adeen blickte auch in zahlreiche verwirrte und zornige Gesichter. Viele Menschen sehnten sich offenbar mehr danach, die Ratsmitglieder bluten zu sehen, als mit ihnen Gespräche zu führen.
»Wir verhandeln nicht mit Erdkriechern«, erwiderte schließlich ein hochgewachsener Mann aus dem Rat. Seine klare, geschulte Stimme hallte über den Platz. Sein Haar hatte die Farbe von altem Blut und war zu einem Zopf geflochten, der ihm zerzaust über eine Schulter nach vorn hing, und sein Gesicht verschwand hinter einer Maske aus Schmutz. So ramponiert er auch wirkte, seine Stimme bebte eindeutig vor Zorn, nicht vor Angst. »Es wird Euch nicht gelingen, uns zu demütigen. Wir sind bereit, in Würde zu sterben, so wie es uns der Herrscher gelehrt hat.« Er blickte sich zu den übrigen Ratsmitgliedern um, wie um sich ihrer Unterstützung zu versichern. Mehrere von ihnen nickten entschlossen, aber auf dem Gesicht von Talannas Vater lag ein düsterer, in sich gekehrter Ausdruck.
Seine Stimme klang rauh und heiser, als er sagte: »Wir wissen, dass Ihr unsere Geheimnisse nie ohne Hilfe ergründet hättet. Wo ist meine Tochter?«
»Was tut das zur Sache?«, fragte die Königin.
Anstelle von Talannas Vater antwortete der Mann, der zuerst gesprochen hatte. »Sie ist eine Verräterin. Liefert sie uns aus, damit wir sie bestrafen können, wie es das Gesetz verlangt.«
Die Lippen von Talannas Vater wurden schmal, aber er widersprach nicht.
»Ihr seid nicht in der Position, Forderungen zu stellen, Naramai«, sagte die Königin beinahe sanft, und der Soldat, der neben dem Ratsherrn stand, drückte ihm die Schwertspitze gegen die Seite, so dass sie sein zerrissenes Gewand noch zusätzlich aufschlitzte. Es floss kein Blut, aber der Mann erstarrte und senkte kaum merklich den Kopf.
»Ihr sprecht davon, dass Ihr sterben wollt, und das kann jeden Augenblick geschehen«, fuhr die Königin fort. Obwohl sie sich dem Mann mit dem roten Zopf zugewandt hatte, war klar, dass ihre Worte an alle Ratsmitglieder gerichtet waren. »Aber wofür? Für die Lehren eines Toten? Und glaubt nicht, dass Eure Truppen Euch befreien werden. Viele Eurer Soldaten haben sich uns angeschlossen, weil sie Eure Lügen ebenso leid sind wie das Volk. Euch bleiben nur noch wenige Verteidiger. Wenn Ihr sie nicht zur Vernunft ruft, sind unsere Leute gezwungen, sie zu töten. Die Stadt befindet sich bereits in unserer Hand. Es ist nur eine Frage der Zeit.«
»Ihr werdet das niemals verstehen, Erdkriecherin.« Mit dem Druck der Schwertklinge gegen seine Seite wirkte der Ratsherr weniger selbstsicher, aber noch immer funkelten seine Augen. »Ob unser Herrscher tot ist oder nicht, das macht keinen Unterschied. Wir, der Rat von Rashija, wir haben seine Überzeugungen an das Volk weitergetragen. Und deshalb haben wir die Menschen dieser Stadt niemals belogen.«
Ein wütendes Aufstöhnen lief durch die Menge. Bevor die Königin antworten konnte, öffnete sich der Kreis der Umstehenden plötzlich, und die Leute machten einer Gruppe Soldaten Platz, die die Drachenrüstungen von Rashija trugen. Eine Frau führte sie an. Unter ihrem Helm stahlen sich hellblaue Haarsträhnen hervor, und Adeen erkannte Kuama, Talannas Schwester. Sie wirkte hohlwangig, vollkommen erschöpft, und fiel mehr vor der Königin aufs Pflaster, als sich niederzuknien. Ihre Rüstung war blind von Staub und blutverschmiert.
»Herrin«, murmelte sie, »wir
Weitere Kostenlose Bücher