Flügel aus Asche
denn, die Pfeife eines Aufsehers schrillte über die Felder. Nemiz bemühte sich, den Arbeiterkolonnen auszuweichen. Adeens nackte Beine waren bald nicht nur gefühllos von Kälte und Nässe, sondern auch bis zu den Knien mit Dornenkratzern übersät. Die Aufregung der letzten Stunden und die Flucht saßen ihm so in den Knochen, dass er halbblind den anderen hinterherstolperte, weil er trotz der Gefahr vor Erschöpfung nur mühsam die Augen offen halten konnte.
Beinahe das ganze Gebiet der Hauptinsel, das sich außerhalb der Stadt befand, wurde zum Anbau von Lebensmitteln genutzt. Rakash und Felsbrot waren sehr genügsame Pflanzen und benötigten nur wenig Wasser. Jetzt im Spätherbst allerdings gab es Wasser im Überfluss, und überall standen Pfützen. So mussten sie zumindest keinen Durst leiden. Hin und wieder gestattete Nemiz ihnen eine kurze Pause, dann knieten sie sich auf den schlammigen Boden und tranken aus den Wasserlachen wie wilde Skadas.
Inzwischen hatte sich die Sonne bereits mehrere Handbreit am Himmel emporgeschoben. Heute war sie eine verschwommene Scheibe von ungesundem Gelbgrau, die durch die Wolken schimmerte.
Sie ließen die bebauten Äcker hinter sich und gelangten zu verlassenen Feldern, so ausgelaugt, dass auf ihnen nicht einmal mehr Felsbrot gedieh. Sie glichen öden Flächen aus braunem Wasser, in denen sich die fahle Sonne spiegelte. An trockenen Tagen mussten von diesen Orten aus die Staubfahnen über die Felder wehen, die Adeen manchmal von der Stadt aus gesehen hatte. Hier arbeitete niemand, und es herrschte gespenstische Stille.
Trotz der kurzen Pausen wuchs Adeens Erschöpfung mit jedem Schritt. Wo sein Körper nicht taub war vor Kälte, schmerzte er so sehr, dass er die Zähne zusammenbeißen musste. Und er sah, dass es den anderen ebenso ging: Überall blickte er in hohle, bleiche Gesichter.
Nemiz’ düstere Miene verriet, dass das auch ihm nicht entgangen war. Er selbst schien keine Müdigkeit zu kennen, sondern kämpfte sich mit seinem Stock unbeirrt weiter und weiter voran. »Wir werden dort eine Pause machen.« Er wies auf die Ruine eines Gebäudes am Feldrand, von dem nur noch die Wände übrig waren. Das Dach musste der Wind bereits vor längerer Zeit davongerissen haben, denn als sie näher kamen, sah Adeen, dass auf den Bodenbrettern weißgraue Flechten wuchsen. Wahrscheinlich handelte es sich um einen ehemaligen Vorratsspeicher.
Die Tür fehlte, aber die Wände waren intakt genug, um sie vor Blicken von außen zu schützen und ihnen eine kurze Zuflucht zu gewähren. Nur ein Teil der Ruine war begehbar, der Rest lag voller Schutt. Nemiz bedeutete allen, sich hinzusetzen. Die Rebellen drängten sich eng zusammen. Sie rochen nach Asche, Schmutz und Schweiß und waren ebenso nass wie Adeen. Er fühlte ihre spitzen Knie und Ellbogen in seinen Rippen. Yoluan ließ sich neben ihm nieder, er klopfte ihm sogar wie zur Ermutigung leicht auf die Schulter.
Eine Weile schöpften sie einfach nur Atem.
»Hört mir zu«, sagte Nemiz dann. Er war der Einzige, der noch aufrecht stand, auf seinen Stock gestützt. Neben ihm – und wie schon bei der letzten Versammlung ein kleines Stück abseits – hatte sich Talanna auf einem Stapel Ziegelsteine niedergelassen. »Ihr wisst, dass der Gegner uns zuvorgekommen ist. Nun lässt sich unser ursprünglicher Zeitplan nicht mehr aufrechterhalten. Dennoch stehen uns nach wie vor alle Mittel zur Verfügung, um unsere Operation erfolgreich durchzuführen und unser Ziel zu erreichen.« Er sah sich eindringlich in der Runde um. Einige aus der Gruppe murmelten müde Zustimmung, andere hatten die Stirn in Falten gelegt. Adeen wusste nicht, was er denken sollte. Er sah zu Yoluan. Der große Mann hatte den Blick fest auf Nemiz geheftet und nickte voller Anerkennung.
Nemiz wies auf Talanna. »Talanna hat zugesichert, uns bei der Anwendung von Schriftmagie zu helfen. Ihr erinnert euch sicher: Beim letzten Treffen habe ich davon gesprochen. Adeen hat die Zauber für uns niedergeschrieben, und wenn wir diese Waffe kontrollieren, können uns auch die Magier von Gabta nicht so einfach schlagen.« Etwas Stählernes war in seiner Stimme. Er nahm seinen Rucksack ab, löste die Verschnürung, öffnete eine Kapsel und hielt eine der Schriftrollen hoch – Adeens Magen zog sich zusammen, als er sah, dass das Papier bereits nass und aufgeweicht war und die Tinte an einigen Stellen zerfloss. Er befürchtete, dass der Zauber in diesem Zustand seine ursprüngliche
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