Flügel aus Asche
ein Bruchstück, so groß wie mehrere Häuser. Es musste ein Teil von Gabta sein, dessen war sich Adeen plötzlich sicher. Ganz offensichtlich waren doch nicht alle Bruchstücke Gabtas über den Himmel davongewirbelt worden. Die frischen Bruchstellen des Felsens flimmerten im Licht, das hatte ihn fast unsichtbar gemacht.
Dorthin musste Adeen, auch wenn ihn der Gedanke ängstigte, was er wohl finden würde.
Je weiter er ging, desto häufiger entdeckte er Trümmer, geschwärzte Steine, Kristallsplitter. Manchmal stieß er auf Leichenteile und wandte sich zunächst voller Schrecken ab – um dann umzukehren und sich zu überzeugen, dass es nicht Talannas Leiche war. Er würde sie immer an ihrer violetten Haut erkennen.
Offenbar hatten die Schwebezauber nur wenig geholfen. War es seine Schuld, hatte er sie zu schlecht kopiert? Oder hatte es der Sturm unmöglich gemacht, Nutzen aus der Schriftmagie zu ziehen?
Nach einer Weile hörte er ein Geräusch, das wie ein Wispern klang. Plötzliche Hoffnung ließ sein Herz schneller schlagen, und er beschleunigte seine Schritte. »Talanna?«
Doch der Mann, der zusammengekrümmt im Moos hockte, hatte struppiges hellbraunes Haar. Er hatte sich über etwas gebeugt und murmelte unverständliche Worte vor sich hin.
»Yoluan!« Auch wenn es nicht Talanna war, durchströmte Adeen bei seinem Anblick Erleichterung. Nun war er nicht mehr allein. »Yoluan, bist du verletzt?«
Der Mann hob den Kopf und sah Adeen aus trüben Augen an. Nur langsam schien er zu sich zu kommen. »K… Krähe? Du lebst?«
Erst jetzt erkannte Adeen, was Yoluan anstarrte, und es wäre ihm lieber gewesen, er hätte nicht so genau hingesehen. Es war ein Kopf. In dem grauen Pferdeschwanz hingen noch immer Eiskristalle, und Eis klebte an Nemiz’ Wimpern.
Yoluan war seinem Blick gefolgt. »Es ist meine Schuld.« Tiefe Niedergeschlagenheit lag in seiner Stimme. »Ich stand direkt neben ihm, als er getötet wurde, ich hätte das verhindern müssen … was sollen wir jetzt nur tun?«
Adeen zwang das Entsetzen nieder, das in ihm aufstieg. »Du konntest nichts dafür, Yoluan«, sagte er. »Es war Nemiz’ eigene Schuld. Komm hier weg. Du kannst ihn nicht wieder lebendig machen.«
Seine Worte schienen etwas in Yoluan auszulösen. Er schlug die Hände vors Gesicht und begann heftig zu schluchzen. Diesen großen Mann weinen zu sehen – Adeen wusste nicht, was er tun sollte. Aber etwas
musste
er tun. Vorsichtig trat er auf Yoluan zu und berührte seine Schulter. »Nemiz ist … auf den Boden gelangt, wie er es immer wollte«, sagte er und fragte sich, ob es die richtigen Worte waren.
»Er wollte die Künstler retten. Und jetzt hat er nicht mal sich selbst gerettet.«
»Mich hat er gerettet, Yoluan.«
Jedenfalls wäre ich ohne ihn nicht hier.
»Er hat sich gewünscht, hier bestattet zu werden, erinnerst du dich? Dann lass uns … ihm diesen Wunsch erfüllen, ja?«
»Wir haben nicht mal seinen Körper«, sagte Yoluan rauh.
»Es ist nicht zu ändern. Tun wir einfach, was wir können.«
Yoluan sah Adeen lange in die Augen, als müsse er über etwas nachdenken. Schließlich nickte er stumm, schob mit dem Fuß die Blätterschicht beiseite und machte sich daran, mit bloßen Händen ein Loch in den Erdboden zu graben.
Anschließend wollte Yoluan das behelfsmäßige Grab nicht verlassen, sondern die Totenwache halten und die rituellen Lieder singen. Mit Mühe gelang es Adeen schließlich, ihn zu überzeugen, dass Nemiz ihn nicht mehr brauchte, er, Adeen, aber sehr wohl. Zu zweit gingen sie weiter. Zunächst schwieg Yoluan düster, doch auf Adeens wiederholte Nachfragen begann er allmählich zu erzählen, wie er den Schwebezauber benutzt hatte und »wie ein Stück Wäsche«, wie er es ausdrückte, in die Tiefe gesegelt war. Bunte Lichter am Himmel habe er gesehen, Feuer im Wald. Am Boden hatte er nach Nemiz gesucht, auch wenn er wusste, dass der Anführer bereits auf Gabta gestorben war. Andere Überlebende hatte er nicht getroffen. Dass er davongekommen war, schien ihn nicht sehr zu trösten.
»Wie sollen wir es ohne Nemiz schaffen?«, wiederholte er voller Verzweiflung. »Wie sollen wir jetzt frei werden?«
»Aber Yoluan«, wandte Adeen leise ein, »so frei wie jetzt waren wir doch noch nie.«
Der große Mann sah ihn nur müde an. Und auch Adeen konnte kaum an seine eigenen Worte glauben, selbst wenn er wusste, dass er die Wahrheit sagte. Damit sie es bis hierher schaffen konnten, waren so viele gestorben – Rasmi,
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