Flügel aus Asche
entdeckten sie bald einen idealen Zufluchtsort: einen See, in den eine schmale Landzunge hineinragte. Dichte Nebelschwaden trieben über das Wasser. Auf der Landzunge schlugen sie die Zelte auf, in der Hoffnung, dass der Herbstnebel sie vor Blicken schützen würde. Hier konnte sich Adeen nach Tagen endlich wieder waschen – auch wenn das Wasser frostig kalt war – und fand eine Nacht mit ausreichend Schlaf.
Nebel brachte auch der nächste Morgen. Alle Farben wurden durch seinen Schleier erstickt. Grau breitete sich das Wasser des Sees vor ihnen aus, bis es wenige Schritte vom Ufer entfernt im Nebel verschwand. Für Adeen sah es aus, als gäbe es nichts, überhaupt nichts jenseits dieser weichen Grenze. Hier würde ein Feind sicher nur zufällig über sie stolpern, aber er fragte sich auch, wie Keylas Jäger und Späher das Lager wiederfinden wollten.
»Talanna, hast du dir das angesehen?«
Sie saß mit gekreuzten Beinen vor dem Zelt, das man ihnen zugewiesen hatte, und bearbeitete Waffen. Nachdem Keyla herausgefunden hatte, dass sie sich durch ihre Erfahrung beim Militär in Rashija auf Waffenpflege verstand, verbrachte Talanna ihre Abende notgedrungen damit, den Zustand der schartigen, abgestumpften Schwerter und Dolche der Gruppe zu verbessern. Das Kratzen des Schleifsteins gehörte für Adeen inzwischen zu den Hintergrundgeräuschen der neuen Welt, fast wie das Windrauschen in den Bäumen oder das Trillern der Vögel.
»Den Nebel?«
»Ja. Als ob die Welt aufhört.«
Sie sah nicht auf. »Vielleicht tut sie es ja. Adeen, Yoluan war eben da und hat diesen Eimer gebracht. Du sollst die Beeren pulen und zu Itsi bringen.«
Es war nicht leicht, Talanna so nahe zu sein und doch kaum von ihr beachtet zu werden, denn längst waren Adeens Träume von einem schwarzen Vogel nicht mehr die einzigen, die ihn nachts aufweckten. Aber das war etwas, was er Talanna gegenüber besser nicht erwähnte. Noch immer wusste er nicht genau, was sie in Rashija erlebt hatte, was Charral ihr angetan hatte, doch seine Fantasie reichte weit genug, um sie damit besser in Ruhe zu lassen.
Trotzdem hatte sie ihn geküsst, damals, als die Insel Gabta unter ihnen auseinandergebrochen war. Jetzt wirkte sie so schwermütig wie einer der Bäume, die im Nebel kaum noch zu erkennen waren.
Mit einem Seufzer ließ er sich ihr gegenüber nieder – von dem Marsch schmerzten seine Beine und sein Rücken – und zog den Eimer zu sich heran. Er war gefüllt mit Stechbeeren, winzigen rosa Dingern, die zwar süß schmeckten, aber erst von ihrer stachligen Haut befreit werden mussten. Adeen verzog das Gesicht und machte sich an die Arbeit. In den letzten Tagen hatte er sich auf diese Weise ständig die Finger zerstochen, doch Itsi, die Herrin des Kochtopfs, behauptete, er häute die Beeren geschickter als irgendjemand, den sie kenne. Offenbar waren die Hände eines Schreibers hier draußen zumindest noch zu ein paar einfachen Arbeiten zu gebrauchen.
»Talanna, wir sollten miteinander reden.«
Sie hatte den Blick auf die Dolchklinge gesenkt, an der sie gerade arbeitete. »Willst du wieder wissen, ob es mir auch ja gutgeht?«, fragte sie abweisend.
»Was ist los mit dir? Liegt es an mir? Habe ich irgendetwas getan, das dich gekränkt hat?«
»Du kannst nichts dafür.«
»Aber was ist es dann?«
»Gar nichts. Du siehst ja, ich versuche, nützlich zu sein. Mehr kann Keyla nicht von mir erwarten.«
»Hattest du Streit mit ihr?«
»Nein. Sie hat sich wohl entschieden, zu warten, bis meine Haare wieder lang genug gewachsen sind für ihren Gürtel.«
Adeen schüttelte den Kopf. »Wie kannst du so reden?«
Talanna legte den Dolch vor sich zu Boden und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Entschuldige. Ich denke, Selbstmitleid steht mir nicht gut, was?«
Adeen schwieg einen Moment. Er wusste nicht, ob er aussprechen sollte, was er dachte, denn Talanna schien gereizt genug. Andererseits fühlte er, dass sie ihm jeden Tag fremder wurde, und dabei waren sie einander noch nicht einmal wirklich nahe gewesen. Er wollte nicht, dass es so weiterging. »Es ist die Magie, oder? Deine … und meine.«
Talanna schwieg, und Adeen bereute seine Worte bereits, aber dann setzte sie unvermittelt doch zu einer Erklärung an: »Du hast recht. Es ist deine Magie. Du … du hast keine Ahnung, wie es ist, wenn dir etwas genommen wird, das dir immer gehört hat, und dann siehst du bei einem anderen … was du selbst hattest, und der andere kann nicht einmal damit
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