Fluegel der Dunkelheit
Sie mir doch bitte, wo Sie meinen Sohn versteckt
haben und ...«
Dieser miese
Scheißkerl! »Veit ist genauso wenig ihr Sohn, wie er meiner ist«,
hörte sie sich sagen. Wie kam sie dazu, eine solche Aussage zu
treffen? Klingberger klappte der Unterkiefer nach unten, was sich für
Liana nach einem Volltreffer anfühlte. Es gab keine Notwendigkeit,
sich mit diesem unverschämten Kerl noch weiter abzugeben. Ihre
Blicke richteten sich auf die leere Parklücke. Der Kombi war
inzwischen hinausgefahren. Eilig stieg Liana in ihren Wagen. Als sie
losfuhr, klopfte Klingberger an ihre Scheibe.
»Das werden Sie
bereuen!«, schrie er ihr hinterher.
»Und wenn schon.
Veit ist also nicht dein Sohn, verehrter Klingberger«, sagte sie zu
sich selbst. Warum behauptete das Bettina dann? Welchen Grund gab es
für sie, sich mit Klingberger abzugeben, wenn er gar nicht der Vater
war? Bettina hatte sich so merkwürdig ausgedrückt, sie habe sich
bereit erklärt. Eine künstliche Befruchtung, das wird es gewesen
sein. Klingberger wollte ein anämisches Kind zeugen, mit dem man
Tests durchführen konnte. Anfangs war Bettina vielleicht
einverstanden und nun brachte sie es nicht mehr übers Herz, Veit aus
den Händen zu geben. Auch wenn es die einzig vernünftige Erklärung
war, so schien Liana diese Möglichkeit doch etwas sehr abwegig. In
den kommenden Stunden, die sie vor Bettinas Wohnungstür verbrachte,
kehrte sie nur immer wieder zu dieser Überlegung zurück. In der
Wohnung von Bettina blieb es mucksmäuschenstill. Was hatte sie auch
erwartet? Nach vereinzelten Gesprächen mit vorbeikommenden
Hausbewohnern erfuhr Liana, dass Bettina sich nur selten in ihrer
Wohnung aufhielt und der Briefkasten meist überquoll. An diesem Tag
kam Liana nicht wie sonst übermüdet nach Hause. Sie fühlte sich
eher aufgedreht. Bettinas Verschwinden, Klingberger und das Geheimnis
um Veit geisterten ihr durch den Kopf. Wie sie an die gestrige
Heimfahrt dachte, fiel ihr unweigerlich der junge Mann von letzter
Nacht ein. Womöglich gab es dort, wo sie ihn getroffen hatte, ein
Haus in der Nähe, ein Forsthaus vielleicht. Sie musste ihn einfach
wiedersehen, auch wenn er sich sehr eigenartig benommen hatte. In
einer solchen Situation war er wahrscheinlich geschockt, weil er
nicht wusste, wie er in ihren Wagen gekommen war. So ein Blackout
allein konnte einem Menschen ja schon Angst einjagen. Was hatte sie
zu verlieren? Mit einer Taschenlampe ausgerüstet, fuhr sie zu jenem
Wald, wo sie ihn aufgelesen hatte. Jedenfalls hoffte sie, ungefähr
jene Stelle erreicht zu haben. In der Dunkelheit sah jeder Baum wie
der andere aus und gestern in der Situation hatte sie nicht auf
markante Büsche oder besonders dicke Baumstämme geachtet. Nicht im
Traum hätte sie es für möglich gehalten, freiwillig hierher
zurückzukommen. Sie parkte ihren Wagen in der Auffahrt eines
Forstweges. Einerseits kam sie sich völlig bescheuert vor, nachts im
Wald nach einem Mann zu suchen, aber andererseits meinte sie, einem
inneren unwiderstehlichen Verlangen nachkommen zu müssen. Während
sie den Weg mit ihrer Taschenlampe in der Hand entlang ging, drehte
sie sich immer wieder zum Auto um. Sie wagte sich weiter in den Wald,
als sie gedacht hatte. Von einem Forsthaus war allerdings nichts zu
erkennen. Außer dem Rufen eines Waldkauzes begegnete ihr niemand.
Wer auch? Nur weil sie hier einen jungen Mann getroffen hatte, konnte
sie nicht davon ausgehen, dass er sich jede Nacht an dieser Stelle
aufhielt. Auch wenn dieser Ort die einzige Verbindung zu ihm
darstellte, diese nächtliche Suchaktion war reine Zeitverschwendung.
Liana ging zum Wagen zurück, um nach Hause zu fahren. So etwas
Einfältiges würde sie nicht wiederholen und doch, trotz ihres
Zwiespaltes unternahm sie am zweiten Abend erneut den Ausflug in den
Wald. Natürlich abermals erfolglos. Deshalb schwor sie sich, das
nicht noch einmal zu tun. Am folgenden Abend saß Liana im Auto, auf
dem Weg zu ihrem Lieblingsitaliener. Ein gutes Glas Rotwein und eine
knusprige Pizza sollten sie auf andere Gedanken bringen. Als sie auf
ihre Digitaluhr im Auto schaute, musste sie drei Mal hinsehen.
Lediglich die letzte Ziffer, eine Drei, leuchtete, der Rest war
offensichtlich ausgefallen. Das war ärgerlich. Der Wagen war noch
keine zwei Jahre alt. Die Drei erschien Liana besonders hell.
Definitiv war die Elektrik nicht in Ordnung. Beim nächsten
Werkstattbesuch sollte sie diesen Defekt melden. Sie richtete ihre
Aufmerksamkeit wieder auf den
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