Fluegel der Dunkelheit
mit Prof. Dr. Silvanus. Klingberger war als langjährigem
Arzt natürlich mehr Vertrauen und Glauben zu schenken, als einer
jungen aufstrebenden Ärztin. Erneut wanderten ihre Gedanken zu Veit.
Sie sah seine kleine Stupsnase vor sich, seine bernsteinfarbenen
Augen. Und wenn Klingberger selbst jene Tests durchführen wollte. Es
wäre jedenfalls eine gute Erklärung für Veits auffälliges
Verhalten, als er Klingberger an ihrer Wohnungstür begegnet war.
Eine Gänsehaut überzog ihren Körper. In ihrer Fantasie sah sie
Veit auf einer Untersuchungsliege, verkabelt, mit einem Schlauch am
Kopf.
Unsinn! Klingberger
war Arzt, trotz des Feldzuges gegen sie, hatte er den Eid abgelegt,
Menschen zu helfen, nicht sie zu quälen. Aber was genau steckte
hinter dieser ganzen Geschichte? Je länger Liana darüber
nachdachte, was sich die letzten Tage ereignet hatte, desto
verworrener schien ihr die Angelegenheit zu sein. Bettina
verheimlichte viel mehr, als sie bisher angenommen hatte. Ging es
hier wirklich nur um Veit, um seine Krankheit oder spielten noch
andere Faktoren eine Rolle? Diese Bekanntschaft, von der Bettina
sprach, zu diesem verunglückten Hausmeister, da steckte definitiv
eine weitere Geschichte hinter. Das neue Opfer aus der Zeitung von
heute Morgen hatte gewiss nichts mehr damit zu tun. Liana erinnerte
sich an Bettinas Aussage, Veits Entstehung sei ein Verbrechen
gewesen. Es war doch eine Vergewaltigung. Klingberger traute sie eine
solche Tat durchaus zu, doch diese Überlegung änderte die Tatsachen
nicht. Bettina blieb verschwunden und Klingberger hielt sie
vermutlich irgendwo fest. Einen Grund mehr zur Polizei zu gehen. In
diesem Fall nahm sich das Jugendamt Veit an. Nein! Veit sollte bei
Hannah bleiben. Was Liana jetzt brauchte, war eine gute Tasse Kaffee.
Ja! Menschen um sie herum, die für Ablenkung sorgten. Sie fuhr ins
Parkhaus des großen Einkaufszentrums Gesundbrunnen, um sich ins
Getümmel zu stürzten.
In einem
Schaufenster für Herrenbekleidung blieben ihre Augen auf einem
Poster kleben. Das ansprechende Gesicht auf der Reklame erinnerte sie
an den Mann von gestern im Wald. Augenblicklich sah sie ihn vor sich.
Seine männlichen Züge, diese breiten Augenbrauen und seine
megalangen Wimpern. Herrje! Was war nur los mit ihr? Der Typ wollte
nichts von ihr, war sogar vor ihr geflüchtet. Sie musste ihn
vergessen.
Ihre Gedanken
machten einen Sprung zu Veit.
Jetzt, da sie
freihatte, könnte sie mit ihm zusammen sein. Andererseits barg das
natürlich auch die Gefahr, verfolgt zu werden. Klingberger hatte mit
seiner Freistellung vielleicht genau das bezwecken wollen, denn
bestimmt kam der Vorschlag nicht vom Chefarzt. Es wäre auch denkbar,
dass Klingberger sie beschatten ließ. In einem Café setzte sich
Liana an einen Tisch, bestellte sich einen Cappuccino und beobachtete
dabei die hektischen Menschen beim Einkaufen. Was für ein Gewühle
und Geschubse. Zwischen den Cafébesuchern fiel ihr eine zierliche
Frau auf. Sie starrte zu Liana herüber. Ihre langen schwarzen Haare
sahen gepflegt und glänzend aus. Ihre braunen Augen besaßen eine
magische Anziehungskraft. Sie musste eine Südländerin sein. Ihre
Lippen bewegten sich, als spräche sie Liana an, doch um es zu
verstehen, saß sie zu weit entfernt. Stattdessen meinte Liana, eine
innere Stimme zu hören.
»Ich brauche deine
Hilfe. Suche ihn. Nur du kannst ihm helfen.«
»Wem?« Liana
zuckte zusammen. Jetzt redete sie schon in der Öffentlichkeit mit
sich selbst. Wie peinlich war das denn? Hoffentlich hatte sie niemand
beobachtet. Verlegen griff sie nach ihrer Tasse, nahm einen Schluck
und schaute wieder auf. Die Frau saß nicht mehr da. Suchend blickte
Liana in die Menschenmenge. Weit konnte sie noch nicht sein, sie
musste doch hier noch zu sehen sein. Liana begann, an ihrem Verstand
zu zweifeln. Erst hörte sie Stimmen, dann sah sie Leute, die gar
nicht da waren. ›Suche ihn‹, schoss es ihr durch den Kopf. Das
war alles nur Einbildung. Die Ereignisse der letzten Tage
hinterließen ihre Wirkung. Sie bezahlte ihren Cappuccino und begab
sich auf den Weg zu ihrem Auto. Auf der Parkebene entdeckte sie die
Frau erneut. Sie ging auf einen dunklen Kombi zu. Plötzlich stand
Dr. Klingberger vor Liana, versperrte ihr damit die Sicht auf die
Frau. Der Kerl wurde langsam zur Plage.
»Welch ein Zufall,
Ihnen hier zu begegnen, Frau Dr. Majewski.« Sein widerliches Grinsen
ärgerte sie. »Wenn Sie nächste Woche wieder Ihre Arbeit antreten
möchten, verraten
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